Markus Ostertag: Komplex - nie kompliziert

25.08.2014

 
Markus Ostertag leitet das Wiener Büro ostertag Architects, das im Jahr 2000 gegründet wurde und als Netzwerk von Architekten, Projektentwicklern und Ingenieuren organisiert ist. Das Tätigkeitsfeld des internationalen Teams reicht von Büro- und Wohnbauten bis zu urbanen Infrastrukturprojekten sowie multidisziplinärer Forschungs­tätigkeit in Bezug auf Aspekte und Auswirkungen globaler Mobilität. Anna Weisz im Gespräch mit Markus Ostertag

Wann stand es für Sie fest, dass Sie Architektur studieren?
Das war für mich bereits am Ende des Gymnasiums relativ klar. In einem Bauunternehmen aufgewachsen, habe ich meine Kindheit auf Baustellen verbracht. Was gibt es für ein Kind Schöneres, als mit Bagger und Kran mitzufahren. Das Studium der Architektur war somit ein naheliegender Schritt. 

Sie haben also im Familienunternehmen Ihre ersten Schritte zum späteren Beruf gemacht?
Ja, dort konnte ich meine ersten beruflichen Erfahrungen sammeln, vorerst auf der Baustelle, dann als Zeichner. Ich habe aber keine Lehre absolviert. Später habe ich die Baumeisterprüfung abgelegt, was sich als gute Ergänzung zum Architekturstudium herausgestellt hat.

Inwiefern? 
Der nahe Bezug zum Handwerk und das Verständnis für Arbeitsprozesse sind wesentlich für die erfolgreiche Umsetzung eines Projekts. Es ist wichtig zu wissen, wie ein Detail aussehen muss, um zu funktionieren, damit man mit den ausführenden Handwerkern einen kreativen Dialog führen kann. 

Brachte das Studium an der Akademie der bildenden Künste die Ergänzung zu Ihrem praktischen Zugang zur Architektur?
Begonnen habe ich mein Studium an der TU Innsbruck, da mir vom Gymnasium her grundsätzlich eine technische Ausbildung gefehlt hat. Ich habe dann in der Folge ganz bewusst an die Akademie in Wien gewechselt, in die Meisterklasse von Gustav Peichl, wo der Schwerpunkt im Entwurf lag. Da jährlich maximal acht Studenten aufgenommen wurden, war seine Betreuung sehr intensiv, und wir bekamen eine ausgezeichnete Ausbildung.

Wann und wie haben Sie Ihre ersten Aufträge erhalten?
Bereits während meines Studiums habe ich gearbeitet. Kunstmessen betreut, Messestände gestaltet, auf- und abgebaut, aber der eigentliche Start erfolgte unmittelbar nach dem Diplom mit dem Sieg des Wettbewerbs zur Errichtung des IZD-Towers im 22. Bezirk in Wien, gemeinsam mit den damaligen Assistenten von Gustav Peichl. Wir haben dann die Bürogemeinschaft NFOG – Peter Nigst, Franco Fonatti, Markus Ostertag gegründet. Horst Gaisrucker und ich haben in der Folge gemeinsam zahlreiche weitere Projekte umgesetzt, bis sich im Jahr 1997 unsere Wege trennten. Franco Fonatti arbeitete freiberuflich weiter, Peter Nigst ging nach Kärnten, und Horst Gaisrucker und ich leiteten das Büro bis 2000 gemeinsam weiter.

Ihr derzeitiger Fokus liegt in der Planung von Bahnhöfen. Wie kam es dazu?
Das war ein Zufall. Im Zuge der Bahnhofsoffensive 2001 waren wir mit der Adaptierung und Modernisierung des Bahnhofs Leoben beauftragt. Und erhielten in der Folge einen Auftrag zur Neugestaltung und Konzeption diverser Ausstattungselemente für Bahnsteige. Diese Arbeit setzt sich bis heute als Mitarbeit an der sogenannten Regelplanung der ÖBB fort. Weitere Wettbewerbsgewinne folgten, und durch die zunehmende Vertiefung des Themas haben wir uns im Laufe der Jahre viel Spezialwissen angeeignet. 

Wie viele Bahnhöfe haben Sie inzwischen gebaut?
Unser Thema ist der Nahverkehr, also die Mittel- und Kleinstationen. Davon gibt es viele in Österreich! Stationen sind in erster Linie Verkehrsverknüpfungen zwischen Bahn, Bus und Rad. Die Arbeit des Architekten besteht in der Schaffung attraktiver räumlicher Sequenzen. Das zentrale Element einer modernen, leistungsfähigen und komfortablen Verkehrsstation ist das Dach geworden: weitgespannte Dachkonstruktionen, die die einzelnen Verkehrsträger witterungsgeschützt verbinden – erweitert um Bike-and-Ride-Anlagen, die geschützte Verwahrung garantieren und die Entscheidung zum Zweirad für Pendler erleichtern. Alle Stationen sind mit umfassenden Informationseinrichtungen, Wegeleitsystemen und Wartebereichen auszustatten.

Was bleibt dann noch von der Architektur?
Zum einen geht es hier um Stadtraumplanung, denn selbst die Adaption kleiner Stationen und ihre Verknüpfung zu multimodalen Knotenpunkten zieht in der Regel größere urbane Kreise und führt zu Neuüberlegungen in der Stadtentwicklung. Zum anderen geht es darum, Umstiege und Wartebereiche neu zu definieren – unabhängig von ihrer Größe; es sind die transitorischen Schaltstellen einer mobilen Gesellschaft, Visitenkarten von Mobilitätsbetreibern und Gemeinden. Sie müssen über eine angenehme Atmosphäre verfügen, „lesbar“ und hochwertig ausgestattet sein, Bewegungsabläufe optimieren und eine sehr durchdachte Farb- und Lichtführung aufweisen. Wir bringen durch Öffnungen und Durchblicke in alle Unterführungen großzügigen Tageslichteinfall. Das ist ein wichtiger Wohlfühlfaktor. Diese Maßnahmen haben auch zu einer rapiden Abnahme des Vandalismus geführt. Hochwertige Ausstattungen verschaffen offensichtlich schon unbewusst einen gewissen Respekt. 

Aber auch höhere Kosten. Wie sehen das Ihre Auftraggeber?
Das bedarf einer langfristigen Überzeugungsarbeit des Bauherrn und Projektleiters, der das Budget verwalten muss. Die anfangs etwas höheren Kosten betragen jedoch nur ein halbes Prozent der Gesamtbausumme und sind eine gute Investition in die Nachhaltigkeit. Berechnet man die Lebenszykluskosten bereits im Vorfeld, wird klar ersichtlich, dass hochwertige Materialien langfristig zu Einsparungen in der Erhaltung führen.

Betrifft das nicht jeden Gebäudetypus? 
Natürlich. Es wundert mich schon seit langem, dass entsprechende Normierungen wie die Ermittlung von Lebenszyklusrechnungen unter Berücksichtigung von Entsorgungs- oder Austauschkosten noch immer nicht verpflichtend sind. Eine Fassade zum Beispiel ist nach etwa 30 Jahren bauphysikalisch längst überholt. Es wäre daher sinnvoll, bereits in Neuplanungen Optionen zur Fassadenanpassung und zu deren Umtausch zu integrieren. In diesem Bereich wird sich im Bauwesen und in der Architektur noch vieles entwickeln müssen. 

Sie haben vor kurzem gemeinsam mit den Architekten Stadler Prenn und Schuberth und Schuberth den Wettbewerb für den Neubau des Rechenzentrums in der Nähe der Ringstraße gewonnen. Was halten Sie von Hochhäusern in der Ringzone?
Wir haben gemeinsam mit den Kollegen am Wettbewerb teilgenommen und werden nun mit diesem Projekt, das die Jury als „ruhigste und wahrscheinlich logischste Ergänzung“ befand, das Rathauskarree attraktiveren. Ein Hochhaus hätte ich an dieser Stelle als unpassend empfunden. Ich sehe keinen Grund für ein Hochhaus ausgerechnet in dieser typischen Karreestruktur. Es war aber gut, die Bebauung im Rahmen des Wettbewerbs freizustellen. So konnten beide Möglichkeiten untersucht werden, und man hat gesehen, dass die Hochhausprojekte keinen Mehrwert ergeben. 

Sie haben auch in Marrakesch gebaut – in einem völlig anderen Kontext.
Wir haben im Zentrum von Marrakesch ein 200 Jahre altes Riad (traditionelles marokkanisches Haus, Anm.) saniert und am Nachbargrundstück ein Atelierhaus neu errichtet. Klimatische, kulturelle und stadträumliche Gegebenheiten waren die spannendsten Parameter bei der Entwicklung dieser Projekte. Lange hatten wir überlegt, ob wir überhaupt mit traditionellen Bautechniken arbeiten sollten. In Marokko ist alles möglich. Es gibt französische Baufirmen, die jede moderne Bautechnologie beherrschen, klarerweise zu einem entsprechend hohen Preis. In traditioneller Handwerkskunst zu bauen kostet etwa ein Zehntel dessen, und die Bauzeit dauert nicht länger. Der große Unterschied liegt u. a. in der Anzahl der beschäftigten Handwerker auf der Baustelle. Um traditionell zu bauen, muss man sich aber auch auf die Techniken der örtlichen Handwerker einlassen und den Umgang mit deren Materialien verstehen wollen. Wir haben uns schließlich für diese Variante entschieden und das Atelier in traditioneller Ziegelbauweise realisiert. Moderne Elemente durchbrechen und öffnen den sehr dichten Baukörper. So wollten wir auch Sonnenschutzelemente einsetzen, die wir bereits in Europa verwendet haben: Bleche mit Mustern, die von uns entwickelt wurden und in Wien absolut präzis mittels Computersteuerung in Blechtafeln gestanzt werden. Allerdings wollten die Handwerker diese lieber vor Ort selbst herstellen und schnitten wochenlang die einzelnen Teile sorgfältig mithilfe von Sägen händisch aus. Durch diese unterschiedliche Bearbeitung entstand natürlich ein anderer Effekt. Das Resultat war sehr speziell und überraschend. Letztendlich sind wir aber zu dem Schluss gekommen, dass die Auflösung der Präzision des Lasers durch Handarbeit im örtlichen Kontext die richtige ist.

Wie haben Sie die Umsetzung bewerkstelligt? Waren Sie regelmäßig selbst vor Ort?
Ich kenne Marrakesch und auch den Bauplatz sehr gut. Die Planung wurde in Wien durchgeführt und der Bau mit einen ortsansässigen italienischen Kollegen durchgeführt. Das hat sehr gut funktioniert. 

Auf Ihrer Homepage finden sich auch Projekte von Brücken. Das sind doch eigentlich Ingenieurbauten?
Das waren Wettbewerbe der ÖBB, zu denen Ingenieure und Architekten gemeinsam eingeladen wurden. Die Aufgaben des Statikers sind heute sehr komplex und schwierig. Es gibt nur wenige, die sowohl einen kreativen als auch technischen Ansatz verfolgen und bewältigen können. Um den ästhetischen Anspruch von Ingenieurbauten wieder bewusstzumachen und zu thematisieren, ist eine enge Zusammenarbeit von Architekten und Ingenieuren unabdingbar. Das war auch das Ziel der Auftraggeber. 

Sie sind also sehr vielfältig?
Ja, und das macht die Arbeit wirklich spannend. Ob Handlauf, Brücke oder Bahnhof – die Prämisse unserer Entwürfe ist immer dieselbe: sich auf die Komplexität einer Aufgabenstellung bedingungslos einzulassen, ohne kompliziert zu werden. 

Ist das nicht schwierig zu bewältigen im Zeitalter der Informationsgesellschaft, globaler Mobilität und Migration?
Was wir alle auf diesem Planeten gemeinsam haben, ist das Grundbedürfnis nach Sicherheit, Geborgenheit, Komfort und Rückzug, und das spiegelt sich auch in der Architektur wider – egal ob Wohnbau, Bahnhof oder Bürogebäude, ob großes oder kleines Budget. Reduktion, Selbstverständlichkeit und adaptive Fähigkeiten gehören zu den wesentlichen Anforderungen. Architektur muss trotz ihrer Dauerhaftigkeit ausreichend Elastizität besitzen, um Veränderungen Raum zu geben – das bedeutet dann auch zugleich Nachhaltigkeit in mehrfacher Hinsicht.

Markus Ostertag: "Architektur muss trotz ihrer Dauerhaftigkeit ausreichend Elastizität besitzen, um Veränderungen Raum zu geben - das bedeutet dann auch zugleich Nachhaltigkeit in mehrfacher Hinsicht." 

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