Fritz Matzinger: Pionier und Überzeugungstäter
Seit 40 Jahren verfolgt Architekt Fritz Matzinger sein Modell des nachbarschaftlichen Wohnens in Atriumhäusern. In seinem ersten Haus nahe Linz wohnt und arbeitet er nach wie vor selbst. Bis heute konnte Matzinger mit Beteiligung der Bewohner weitere 20 Siedlungen verwirklichen. Die Grundidee ist dabei immer dieselbe: Meist acht zweigeschoßige Wohnungen umgeben einen überdachbaren Hof, der nicht nur als Erschließung dient, sondern auch als alltägliche Begegnungszone, als Spiel- und Festplatz, als Wohnzimmer der Hausgemeinschaft. Was simpel klingen mag, schafft kommunikationsfördernde und gemeinschaftsstiftende Wohnbauten, die kaum ein anderer österreichischer Architekt so überzeugend realisieren konnte. Nicht zuletzt stehen Matzingers Häuser für die gesellschaftspolitische Dimension des Wohnbaus, die beinahe vergessen scheint. Reinhard Seiß im Gespräch mit Fritz Matzinger

Herr Matzinger, was sind die spezifischen Qualitäten Ihrer Atriumhäuser?
Das eine sind die vielschichtigen sozialen Aspekte, die allen Altersgruppen zugute kommen, denn die Vereinsamung beginnt heutzutage ja schon bei den Kindern und reicht bis zu den alten Menschen. Und das andere sind die raumplanerischen, ökologischen und energetischen Aspekte. Ich ziehe gern den Vergleich mit der Natur. Die kleinen Küken rücken, wenn die Henne nicht da ist, auf ein Knäuel zusammen. Dadurch können sie sich schützen und gegenseitig wärmen. Das sollten wir auch machen – in sozialer wie energetischer Hinsicht. Aber wir verpassen lieber allen Einfamilienhäusern einen eigenen Pelzmantel, statt dass wir die lange Zeit erprobten Bau- und Siedlungsformen berücksichtigen. In den Atriumhäusern hat man deutlich geringere Heizkosten, einfach durch die verkleinerte Oberfläche.
Und da reden wir erst von den privaten Vorteilen verdichteter Bauformen.
Richtig. Vor allem die Gesellschaft trägt schwer an den Folgen unserer Wohnbau- und Siedlungspolitik. Was bedeuten denn all die Einfamilienhäuser für die öffentliche Hand, wenn die Bewohner älter werden und allein wohnen, oft noch betreut werden müssen, Essen auf Rädern oder mobile Krankenpflege brauchen? Das können wir uns auf Dauer ebenso wenig leisten wie die Kosten der Erschließung solcher Siedlungen mit Straßen, Wasser und Kanal. Und letztlich zerstören wir damit unsere Landschaft. Ich will mit meiner Arbeit die Menschen vom Einfamilienhaus wegbringen. Denn das ist eine volkswirtschaftliche und sozialpolitische Zeitbombe.
Ihre Bauten kommen ohne Bauträger aus, und Ihre Hausgemeinschaften können als Vorläufer heutiger Baugruppen bezeichnet werden. Wie organisieren und finanzieren Sie Ihre Projekte?
Beim ersten Projekt musste ich den Bewohnern eine Fixpreisgarantie bieten, sonst hätte sich niemand auf dieses Experiment eingelassen. Das heißt, ich trug allein das finanzielle Risiko. Dann kooperierte ich offiziell mit gemeinnützigen Bauträgern, um an die große Wohnbauförderung zu kommen. Natürlich verlangten die auch für die reine finanzielle Abwicklung ordentlich Geld, aber unterm Strich zahlte sich das für uns nach wie vor aus. Als die Fördermittel mehr und mehr zurückgefahren wurden, machte es kaum noch Sinn, Bauträger für unsere Projekte einzuspannen. Wir gründeten bei jedem Projekt selbst eine Gesellschaft, die das Haus errichtet – und die Bewohner sind die Eigentümer dieser Gesellschaft. Das ist eigentlich die korrektere Art einer Genossenschaft, es entspricht deren ursprünglichen Idee.
Wer sind die klassischen „Matzinger-Bewohner”?
Das sind Menschen quer durch die Bevölkerung: Alleinstehende, Familien mit und ohne Kinder, Alleinerzieher – ja, ich habe mich bemüht, verstärkt speziell Alleinerzieher hereinzubekommen, weil gerade ihnen die hohe Gemeinschaftlichkeit das Leben sehr erleichtert. Und mittlerweile gibt es auch kaum mehr Interessenten, die sich etwas Falsches von meinen Häusern erhoffen. Ich baue für Menschen und mit Menschen, die bereits wissen, was ich mache, die sozusagen auf ein Projekt von mir warten. Wenn ich ein passendes Grundstück gefunden habe, informiere ich sie über meine Ideen und entwickle dann mit ihnen ihre Wohnungen und die gemeinschaftlichen Bereiche.
Wirklich Schule gemacht haben Sie damit in der heimischen Architektenschaft aber nicht.
Na ja, meine Art des Wohnbaus ist natürlich ziemlich zeitaufwändig. Du musst dich mit den Menschen beschäftigen und auf ihre Wünsche eingehen – und du musst das auch wirklich durchziehen. Denn es bedeutet, mit 20, 30 Bewohnern über einen langen Zeitraum in Kommunikation zu treten. Und du darfst dich im Wohnbau als Architekt nicht zu wichtig nehmen. Wie das Gebäude im Endeffekt aussieht, bestimmen die Bewohner durch die Summe ihrer Bedürfnisse.
Wäre so ein Planungsprozess überhaupt durch die Wohnbauwirtschaft umsetzbar, oder braucht es dazu nicht zwingend „Überzeugungstäter” wie Sie?
Die üblichen Wohnbauträger, ob gewerblich oder gemeinnützig, sind im Prinzip alle kapitalorientiert und machen ihre Geschäfte mit Blick auf die Jahresbilanz, aber nicht mit dem Ziel, Neues zu entwickeln, Innovatives zu schaffen oder für ihre Klienten zu bauen. Sie bauen halt Quadratmeter, sie machen Wohnflächenproduktion, aber das endet bei der Wohnungstür. Es gibt nicht wirklich die Intention, ein Wohnumfeld zu machen – und schon gar nicht, soziale Aspekte zu berücksichtigen.
Wohnbaupolitik, Bausparkassen und Bauträger argumentieren ja, dass die Bevölkerung nichts anderes will und sich Experimente schlecht verkaufen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass Menschen mit gutgebauten Beispielen in ihrem Wohnverhalten beeinflussbar sind. Deshalb sind Modellprojekte ja so wichtig, um sich Alternativen anschauen zu können, ihre Qualitäten eins zu eins erleben zu können. Ich habe in Baden-Württemberg auch einmal eine Gruppe skeptischer Gemeinderäte aus dem Bauausschuss einer Stadt in einen Autobus gesetzt und bin mit ihnen nach Österreich gefahren, um ihnen meine Siedlungen zu zeigen – und dann haben wir ihre Zustimmung für unser Projekt bekommen. Man muss also nicht nur künftige Bewohner, sondern auch Politiker erst für Neues begeistern. Sonst drehen sie sich im Kreis mit dem, was ihnen die Meinungsumfragen zum Thema Wohnwünsche sagen. Davon halte ich aber überhaupt nichts, weil die Befragten von den Möglichkeiten, die es neben dem herkömmlichen Wohnblock und dem Einfamilienhaus gibt, einfach nichts wissen. Ich vergleiche das immer so: In meiner Jugend hat es keine Bananen geben. Wenn man mich gefragt hätte, was ich lieber hab, einen Apfel oder eine Banane, hätt’ ich mich immer für den Apfel entschieden, weil ich Bananen gar nicht kannte.
Wie hat sich denn Ihr eigener Wohnbauhorizont erweitert?
Ich war nach dem Studium voll auf der Schiene unterwegs, wie man mit Vorfertigung bei einer gewissen Typenvielfalt kostengünstig und effizient Wohnungen in großer Zahl produzieren kann, so wie das die Automobilindustrie vorexerzierte. Das erzählte ich zufällig einem Psychologen, und der hat mir dann erklärt, dass ein Haus, eine Wohnung sehr viel mehr sein könnte und müsste als ein Auto und dass man sich keine Wohnung kauft, wie man sich ein Fahrzeug zulegt, weil das Haus quasi die dritte Haut des Menschen ist, man dazu viel mehr Bezug hat und so weiter. Das hat mir zu denken gegeben. Und dann war ich damals sehr viel auf Reisen und habe in Kamerun und der Elfenbeinküste 1973 erlebt, worauf es beim Wohnen wirklich ankommt. Der Wohnbau, den wir produzierten und bis heute zu 99 Prozent produzieren, ist nichts anders als ein paar Wände und ein Dach überm Kopf. Das befriedigt die physischen Bedürfnisse, aber das ist einfach zu wenig. Ich habe in Afrika eine Gesellschaft erlebt, wie sie bei uns früher wahrscheinlich auch existierte, eine – ich nenne es – ganzheitliche Gesellschaft, in der es keinen Kindergarten, kein Seniorenheim, kein Behindertenheim und nichts von all dem gibt, keine Isolation und keine Vereinsamung. Und ich habe dort Dorfstrukturen kennengelernt, die dieser ganzheitlichen Gesellschaft entsprechen. Das hat mich richtig aufgerüttelt, und in nur 14 Tagen ist in mir der Plan gereift, zwar noch nicht geometrisch, aber von der Idee her, Wohnungen für so eine Gesellschaft zu bauen. Wieder zurück in Österreich, war dieser Plan dann innerhalb eines Monats tatsächlich fertig – und wir begannen noch 1974 mit dem Bau des ersten Atriumhauses.
Und seit damals ist das Herz Ihrer Wohnbauten der gemeinsame Innenhof – als zentrale Erschließung sozusagen die Antithese zum direkten Tiefgaragenanschluss herkömmlicher Wohnungen.
Etliche Kollegen hatten gemeint, ich würde dadurch einen Zwang zur Begegnung für die Bewohner schaffen, aber ich seh’ das nicht so. Das Atrium ist für mich eine bandstiftende Situation, die Gelegenheit zu einer kurzen Kommunikation, zu einem Gespräch, ohne dass ich dafür irgendwo anders hingehen muss, in einen separaten Gemeinschaftsraum oder ins Wirtshaus. Es ist im Prinzip nichts anderes als das, was wir von den alten Dorfplätzen und Angern kennen.
Worin manifestiert sich der Gemeinschaftscharakter Ihrer Projekte abseits des Atriums?
In die meisten Häuser habe ich eine Schwimmhalle eingebaut, auch eine Sauna, weil hier das Aufeinanderzugehen am zwanglosesten möglich ist. Wie wichtig das Schwimmbad für die Hausgemeinschaft ist, ist nicht allen Bewohnern von vornherein bewusst. Darum plane ich es immer von Anfang an mit ein, sodass ich dann im Diskussionsprozess keine Mehrheit brauche, um es durchzusetzen, sondern die Gegner eine Mehrheit brauchen, um es aus dem Projekt zu kippen. Wenn das Bad dann einmal in Betrieb ist, möchte es niemand mehr missen. Es gibt dann natürlich noch alle möglichen anderen Gemeinschaftseinrichtungen: vom Weinkeller, in dem auch Filme geschaut werden, über Sportflächen oder einen gemeinsamen Gemüsegarten. Das ist von Projekt zu Projekt verschieden.
Für Sie sind Nachbarschaft und Kommunikation deutlich mehr als bloß zwei von vielen Parametern der Wohnzufriedenheit?
Wenn man sich die zuletzt aus dem Boden geschossenen Projekte für betreutes Wohnen und ähnliche Wohnformen anschaut, dann gibt es dort verstärkt Gemeinschaftszonen, wo die Bewohner miteinander reden können. Denn das Reden ist für die alten Leute so zentral wie das Essen, das ist unheimlich wichtig. Und im Prinzip geht es bei alten Menschen ja genau um dasselbe wie bei Kindern und Jugendlichen. Sie wollen Gleichaltrige, Freunde im unmittelbaren Wohnumfeld haben, mit denen sie ihre Zeit verbringen, sich austauschen, spielen, etwas unternehmen können. Und das Optimum ist natürlich, wenn die verschiedenen Generationen dabei durchmischt sind. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass eine funktionierende Gesellschaft, dass ein guter Wohnbau keine Kindergärten und keine Altersheime braucht. Die Politik wird irgendwann einmal draufkommen, dass die ganzen Kinderbetreuungsstätten und Seniorenheime nicht mehr finanzierbar sind – und im Wohnbau ein völlig falscher Weg gegangen wurde. Also müssen wir andere Wege finden. Und da sind Mehrgenerationenlösungen der einzige Ausweg. Aber das geht in normalen Wohnhäusern nicht, das geht eben nur bei Konzepten, die den sozialen Aspekt mit berücksichtigen – und das tut keine Wohnbaugesellschaft.
Fritz Matzinger: “Und du darfst dich im Wohnbau als Architekt nicht zu wichtig nehmen. Wie das Gebäude im Endeffekt aussieht, bestimmen die Bewohner durch die Summe ihrer Bedürfnisse.”