Plädoyer gegen den Abbruch!

Redaktion Architektur & Bau Forum
19.03.2013

In der Architekturproduktion steht der Neubau im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sanierung, Erneuerung, lang­fristige Bewirtschaftung sind trockene Themen mit wenig spektakulären Projekten und kaum fotogenen Motiven.

Stadtentwicklung und ­Gebäudebestand
Stadtplanung ist ebenso wie Architektur fokussiert auf das Neue. Auf Konversionsflächen in den inneren Stadtgebieten (Brachen, aufgelassene Bahnareale und ehemalige Gewerbe- und Industrieflächen) wird in der Regel dafür gesorgt, dass ehemalige, nicht denkmalgeschützte Bebauungen und Infrastrukturen restlos beseitigt werden. Auf geräumten Grundstücken wird neu gewidmet, und es wird verdichtet. Vor allem wird neuer Wohnraum geschaffen. Während die güterproduzierende Industrie die städtischen Standorte auflässt, sich dezentralisiert und mit logistischen Landschaften 1 überlagert, nimmt der Anteil des Dienstleistungssektors in wachsenden Agglomerationen zu. Zusätzliche innerstädtische Flächen kommen auf den Markt durch die Reduktion der staatlichen Finanzierung für Bundesheer und Bundesbahnen.

Während bei Industrieproduktionsflächen der Flächenverbrauch zurückgeht und es insbesondere in Wien ein Überangebot an Büroflächen gibt, nimmt die Expansion im Wohnbau zu. Auf nahezu allen Konversionsflächen in innerstädtischen Gebieten (Nordbahnhof, Sonnwendviertel in Wien, Brauereigelände in Schwechat) entsteht überwiegend neue, dichte Wohnbebauung. Uta Hassler2zufolge ist die statistische Überlebenswahrscheinlichkeit von Wohngebäuden weitaus größer als die anderer Bauten. Das Problematische an neuen Geschoßwohnbauten ist ihre räumlich-konstruktive Determiniertheit. Die Raumhöhen bis 2,50 Metern und wohnbauspezifische Deckentragfähigkeiten (geringer als für Schul- und Büronutzungen) lassen im gesamten Lebenszyklus nur weitere Wohnnutzung zu.
 
Nutzungskontinuität als Voraussetzung der Erhaltung
Im Gebäudebestand gibt es nur wenige ikonische Gebäude. Der Anteil denkmalgeschützter Bauten in Österreich ist vergleichsweise gering. Laut Bundesdenkmalamt beträgt der „denkmalgeschützte Anteil an der Gesamtbaumasse in Österreich zwei Prozent”.

Denkmalschutz beschränkt sich auf die Materialität von Gebäuden, denn, wie Wolfgang Salcher, ein Denkmalschutzexperte, treffend anmerkt, die Nutzung selbst kann nicht unter Schutz gestellt werden. Die gesicherte Nutzung und die damit verbundene ökonomische Verwertung sind jedoch wesentlich für das Überleben eines Bauobjekts. Ohne ökonomischen Gebrauch wird in das Gebäude nicht mehr investiert, die Bauschäden nehmen zu und das Objekt wird im Laufe der Zeit unsanierbar. Nicht, weil technisch nicht möglich, sondern weil es ökonomisch nicht mehr zu vertreten ist. Dieser Zustand kann auch absichtlich herbeigeführt werden. Ein weiteres Motiv für Abbruch entsteht, wenn der Grund, auf dem das Gebäude steht, durch eine andere Nutzung und vor allem durch größere Dichte besser verwertbar wäre. Das Überflüssigwerden von technischen Artefakten wie Gebäuden wird mit dem Fachausdruck

„Obsoleszenz” beschrieben. Die formale Obsoleszenz, die Niklaus Kohler als weiteres Motiv für die Demolierung von Bauten nennt, wandelt sich hingegen im Laufe der Jahre. Bauten, die noch vor 20 Jahren als modische Irrtümer angesehen wurden, können an Bedeutung gewinnen und werden in den Kanon ikonischer architektonischer Objekte aufgenommen. Abseits ikonischer Architekturen und denkmalgeschützter Objekte gilt es, das Augenmerk auf die Alltagsgebäude aller Bauperioden und aller Nutzungsklassen zu lenken. Denn laut Uta Hassler und Niklaus Kohler ist der Gebäudebestand die größte physische, ökonomische, soziale und kulturelle Ressource in europäischen Gesellschaften. Hassler und Kohler postulieren die langfristige werterhaltende Unterhaltung dieser Bestände als das wesentliche Kriterium für Nachhaltigkeit in der Stadt.
 
Historische Materialien und Bautechniken sind heute häufig nicht reproduzierbar. Darüber hinaus enthalten Gebäude früherer Jahrhunderte viele nachhaltige und resiliente Elemente. Flexible, adaptierbare Räume findet man nicht nur in alten Industriehallen und Gründerzeithäusern, sondern unvermuteterweise auch in Bürogebäuden der späten Nachkriegsmoderne. Die Bescheidenheit der Nachkriegsmoderne ist vorbildlich für die heutige Suffizienz. Nicht zuletzt ist graue Energie, enthalten in vorhandenen Baustrukturen, ein weiteres Argument für die langfristige Weiternutzung.
 
Regelwerke für den Schutz der ­Architektur nach 1945
Ob ein Gebäude den Status des „schützenswerten Denkmals” erlangt oder nicht, muss im Einzelfall geklärt und verhandelt werden. Bauten der Nachkriegsmoderne mangelte es bisher an Verständnis für deren bauhistorische Bedeutung. Nicht wenige Bauwerke, die durchaus „Signifikanz und Bedeutungsbewusstsein” im Sinne des Denkmalschutzes erfüllt hätten, sind inzwischen unwiederbringlich umgestaltet oder abgerissen. Innerhalb des auf „Historie” ausgerichteten Denkmalbegriffs fehlte es mitunter an geeigneten Wertmaßstäben für eine derart auf Nutzungsoptimierung ausgerichtete Architektur. Um diese Lücke zu schließen, wurde auf Initiative der beiden Städte Wien (Magistratsabteilung 19 für Architektur und Stadtgestaltung) und Brünn eine Bewertungsmethode für die Architektur der Nachkriegszeit entwickelt. Die Bewertungsmethode bedient sich eines mehrstufigen Verfahrens. Bestandsaufnahme (Daten und Fakten im geschichtlichen und im physikalischen Kontext) und Wert-/Profilanalyse (Konnotation/Aura, Ingenium, Leistungsfähigkeit) werden getrennt betrachtet. Der dritte und letzte Schritt, der Prozess der Bewertung, startet erst im Anlassfall. So möchte man sicherstellen, dass die Bewertung im „Kontext der aktuell anstehenden Anforderung an das Gebäude und dem damit verbundenen Adaptierungsbedarf (Ökonomie)” erfolgt. Wieweit daraus ein wirksames Instrumentarium zum Schutz für die Architektur nach 1945 besteht, wird noch zu klären sein.
 
Grenzen und Potenziale neuer ­Nutzungen
Werterhaltende Instandhaltung und notwendige Investitionen der Bausubstanz können nur durch neue Nutzer gesichert werden. Wenn ehemalige Produktionsbauten und Nebengebäude der Verkehrsinfrastrukturen erhalten bleiben, dann werden sie zu Wohnnutzungen umgewidmet oder durch Ansiedlung von Kulturinstitutionen gesichert. Beide Strategien sind nicht unproblematisch. Reine Kulturnutzungen sind abhängig von öffentlichen Subventionen oder dem Willen privater Stifter, ermöglichen jedoch die Zugänglichkeit und konstituieren öffentliche Räume. Die Umwidmung zu Wohnnutzung (und die damit verbundenen Miet- und Eigentumsrechte) determinieren die Funktion der Gebäude für lange Zeit.

Man sichert zwar nachhaltig den Erhalt materieller Substanz, gleichzeitig ist die Integration in urbane Entwicklungen durch den privaten Charakter stark eingeschränkt. Zwischennutzungen, die mittlerweile zum Standardrepertoire der Stadterneuerung zählen, wurden lange Zeit ausschließlich positiv bewertet.
Heute ist bekannt, dass damit auch unerwünschte Gentrifizierungseffekte ausgelöst werden. Zwischennutzungen können allerdings auch neue Akteure anziehen, die den Wert des Bestands zu schätzen lernen. Die materielle Erhaltung der Bestandsgebäude, die mit frischem kulturellem Kapital ausgestattet worden sind, ist dadurch gesichert. Die Umnutzungen und die Auswahl neuer Akteure sind sorgsam zu planen und behutsam zu initiieren. Neben nachhaltiger Erhaltung kulturell-materieller Ressourcen bergen bestehende Räume Potenzial als Experimentierfelder für künftige partizipative Prozesse.
 
Einige aktuelle Beispiele:
Abbruch nach Leerstand
Die Zentrale der Austrian Airlines in Wien Oberlaa wurde zwischen 1975–1978 nach dem Entwurf von Georg Lippert errichtet. Das Gebäude stand zwischen 2007 und 2012 leer, der Abbruch erfolgte Ende 2012. Künftige Pläne über die neue Nutzung des Grundstückes (im Eigentum der Stadt Wien) sind derzeit nicht bekannt. Fest steht, dass die U-Bahn-Linie U1 nicht nach Rothneusiedl, sondern nach Oberlaa, dem ehemaligen Standort, verlängert wird. Das Bürogebäude mit dem charakteristischen schwebenden Flügel über dem Haupttrakt wäre aufgrund offener Grundrisse gut geeignet für andere Nutzungen.
(Siehe hierzu Kommentar „Ein ewiges Systemsymbol” von Walter Chramosta in Architektur und Bau FORUM 07/12, Seite 1.)
 
Wohnsiedlung statt Industrieanlagen
Die Produktionshallen, das Verwaltungsgebäude, der Silobau und der markante Schornstein am historischen Brauereigelände in Wien-Schwechat wurden in Winter 2011/2012 abgebrochen. Alle Gebäude stammten aus unterschiedlichen Bauperioden. Auf den Satellitenfotos von Google Maps ist der Gebäudebestand noch zu sehen. Erhalten blieben lediglich das denkmalgeschützte Brauhaus, die ehemalige Dieselzentrale und der Gartenpavillon. Die unterschiedlichen Bauten wären auch für Wohnnutzung adaptierbar. Am Areal soll ein neuer Stadtteil entstehen.
 
Wohnhochhaus statt unrentablen Kinokomplexes
Das Cineplexx Reichsbrücke, geplant von Harry Seidler und erbaut zwischen 1996 und 2001: Nach dem Ende der Kinonutzung wurde im Gebäude ein Vergnügungspark für Kinder (Monopolis) betrieben. Mittlerweile planen die Nutzer den Abriss des Gebäudes und die Errichtung eines Wohnhochhauses. Eine Bürgerinitiative, die den Abbruch verhindern will, formierte sich bereits.
 
Schlummernde (Wohnbau)Potenziale?
Die ehemaligen Zeiss-Werke, 1916/17 nach Plänen von Robert Oerley im Auftrag der Firma Carl Zeiss als Produktionsstätte für optische Geräte errichtet und inmitten eines großen unverbauten Areals im Westen Wiens, im 14. Wiener Gemeindebezirk, gelegen, kamen 2006 erstmals ins Gespräch, als eine durch die Wiener SPÖ angedachte „exklusive” Wohnbaunutzung das unter Denkmalschutz stehende Gebäude und den umliegenden Grünraum in topografisch exponierter Lage bedrohte.

Das 34.000 Quadratmeter große Areal gehört inzwischen dem Bund und wird seit den späten Achtzigerjahren durch das Bundesheer genutzt. Das Technische Museum verwendet einen Teil des Gebäudes als Lagerraum für seine Objekte. Der Erweiterungsbau der Firma Philips aus den Sechzigerjahren verfällt zusehends. Während für den markanten Zeiss-Stahlbetonbau mit der weithin sichtbaren Observatoriumskuppel die architektonische Qualität außer Zweifel steht, wird die Existenz der nebenan stehenden schlichten Industriehalle der Philips-Werke gern negiert und in fotografischen Ansichten wegretouchiert oder es werden historische Aufnahmen vor dessen Errichtung verwendet. Ein Verkauf des Areals steht an, vorerst allerdings noch ohne konkrete Pläne.

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