Wege zur Baukultur im ländlichen Raum

Redaktion Architektur & Bau Forum
21.01.2013

Hopfgarten im Osttiroler Defereggental ist eine kleine, landwirtschaftlich geprägte Gemeinde, die ein vielfältiges Gemeinschafts- und Kulturleben entwickelt hat. Anfang der Neunzigerjahre sperrte jedoch das letzte Gasthaus des Ortes zu, und damit war es vorbei mit Vereinsabenden, Familienfeiern und Theateraufführungen in der Gemeinde. Der Verlust von Infrastruktur und das Wegbrechen von Stätten für kulturelle Aktivitäten ist ein Problem, das viele ländliche Regionen in Österreich erleben.

von Sonja Bettel

Viele Gemeinden resignieren, die Jungen wandern ab, und irgendwann stirbt das Dorf aus. In Hopfgarten jedoch regte sich Widerstand. Zehn Jahre lang habe man gelitten, erinnert sich der Gemeinderat Richard Schneider, doch dann war das Maß voll: „Es war dringend notwendig, etwas zu tun. In den anderen Gemeinden haben sie sich schon lustig gemacht über uns, weil wir kein Gasthaus hatten.” Man gründete also einen Dorferneuerungsausschuss, bestehend aus Gemeinderäten und Bürgern, der analysierte, welche Räume für die Bedürfnisse der Dorfbewohner vonnöten und welche bereits vorhanden sind. Neben dem Bedarf nach einem neuen Gasthaus wurden Räume für die Feuerwehr, den Theaterverein, die Musikschule und andere Vereine benötigt.

Für das schwierige Projekt – es sollte möglichst kostengünstig ein Haus für verschiedenste Nutzungen an einem schwierigen Standort gebaut werden – holte sich die Gemeinde Hilfe von der Tiroler Dorferneuerung und führte gemeinsam mit dieser einen Architekturwettbewerb durch. Auch das ist nicht selbstverständlich, denn in vielen Gemeinden in Österreich werden selbst entscheidende größere Bauvorhaben vom örtlichen Baumeister geplant und von der „farblich” passenden Wohnbaugenossenschaft gebaut. Dabei entsteht allzu oft ein überall gleich aussehender Typus von Wohn-, Geschäfts- und Kommunalgebäuden, der die Orte zunehmend ihrer Identität und Attraktivität beraubt.
 
Fruchtbare Diskussionen
In Hopfgarten entschied sich die Wettbewerbsjury für den Entwurf der jungen Architekten Hans-Peter Machné und Marianne Durig – mit einer Gegenstimme: jener des Bürgermeisters Franz Hopfgartner. Hopfgartner habe stundenlang versucht, die anderen umzustimmen, erinnert sich ein Jurymitglied aus dem Ort, doch dann habe er die Entscheidung akzeptiert und stehe seither felsenfest dahinter.

Was ihn am Entwurf in erster Linie gestört habe, sei die Holzfassade gewesen, erzählt Franz Hopfgartner, denn er habe Angst gehabt, dass diese zu pflegeintensiv sein könnte. Man einigte sich schließlich auf Kupfer und Stein. Das ganze Projekt hindurch habe es immer wieder Diskussionen über einzelne Aspekte gegeben, sagt Hans-Peter Machné, „doch wenn erst einmal eine Entscheidung getroffen ist, wird diese auch konsequent durchgezogen. Das macht die Qualität hier aus.” Von Anfang an wurden auch die Bürger einbezogen – zuerst bei der Bedarfserhebung, dann beim Planungsprozess und schließlich auch beim Bau, wo vor allem die Feuerwehrleute intensiv mitgearbeitet und so Baukosten gespart haben.

Das Resultat ist ein auffälliges Gebäude, das als neuer Treffpunkt der Bewohner dient und dessen kristalline Form nicht Selbstzweck ist, sondern der Funktionalität und den räumlichen Anforderungen folgt. Heute lacht niemand mehr über Hopfgarten, im Gegenteil: Bis nach Lienz und Matrei ist der Veranstaltungssaal bei Musikschulen und Konzertbesuchern wegen seiner guten Akustik beliebt.
Hopfgarten im Defereggental ist ein gutes Beispiel für gelebte Baukultur im ländlichen Raum, denn aus den vergangenen Jahren haben Gemeindevertreter und Bürger viel gelernt: Sie haben erfahren, dass es möglich ist, das Schicksal zu wenden, dass man konstruktiv diskutieren und gemeinsam mehr erreichen kann, dass auch eine kleine Berggemeinde etwas Besonderes zu schaffen imstande ist – und, dass das Bauen all dies auslösen kann.

Derart ermutigt ging es in den Folgejahren entsprechend weiter: Das Gemeindehaus wurde bürger- und mitarbeiterfreundlich umgestaltet, der davor liegende Dorfplatz erneuert, und aus einem leerstehenden Geschäftslokal wurde die „Machlkammer”, in der Kunsthandwerk aus dem Dorf verkauft wird. In den Jahren 2010 und 2011 wurde der Friedhof erweitert und eine neue Aufbahrungshalle gebaut, wofür ebenfalls ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben und ein Entwurf ausgewählt wurde, der Tradition und Moderne vereint und dem Ort ein markantes Gesicht verleiht. Anregungen für dieses Projekt hatte sich der dafür gegründete Ausschuss bei einer Exkursion ins Schweizer Bergdorf Vrin bei der Totenstube von Gion A. Caminada geholt.
 
Baukultur ist rar
Noch zählt Hopfgarten jedoch zu den Ausnahmegemeinden. Baukultur ist in Österreich eher eine Unkultur, die von Zersiedelung, der Ansiedlung von Einkaufszentren und Gewerbeparks an der Peripherie, einer Zunahme des Individualverkehrs, der Zerstörung identitätsstiftender historischer Strukturen und Infrastruktur sowie der Leerung der Zentren geprägt ist. Die Gestaltung stammt meist aus Fertigteilhauskatalogen, Architekten gelten als zu teuer, Architekturwettbewerbe sind großteils unbekannt. Bei Bauenden und Entscheidungsträgern in Österreich herrscht vielfach ein Mangel an Wissen und Können, um Baukultur entwickeln zu können. Im Jahr 2002 wurde deshalb die Plattform für Baukultur gegründet, die Vertreter von Architekturfakultäten und Kunstuniversitäten, Kammern und Interessengruppen versammelt. 2004 wurde eine Enquete abgehalten, in deren Anschluss der Nationalrat die Bundesregierung aufforderte, einen Baukulturreport zu beauftragen. Dieser Report erschien erstmals im Jahr 2006 und zum zweiten Mal im Frühjahr 2012 (Österreichischer Baukulturreport 2011, herausgegeben vom Bundeskanzleramt Österreich).

„Der Sinn des Bauens ist die Schaffung von Lebensraum und Entwicklungsmöglichkeit für die Menschen, daran muss sich letztendlich alles Bauen messen”, heißt es in der Einleitung des aktuellen Reports. Dieser Anspruch drohe oftmals aber in der Fülle rechtlicher, technischer, wirtschaftlicher und kultureller Argumente unterzugehen. Nur wenn Baukultur als umfassendes Anliegen wahrgenommen werde und alle beteiligten Personen einschließe, sei es möglich, soziale, ökonomische, ökologische und kulturelle Rahmenbedingungen für ein lebenswertes Umfeld zu sichern. Dafür sei es wichtig, Baukultur schon in den Schulen zu vermitteln.
 
Wie entsteht Baukultur?
Um die Baukultur im ländlichen Raum, der oft von Strukturschwäche und Abwanderung betroffen ist und meist über geringen finanziellen Spielraum für Bauaktivitäten verfügt, zu fördern, hat der Verein LandLuft im Jahr 2009 den Baukulturgemeinde-Preis ins Leben gerufen, um positive Beispiele vor den Vorhang zu holen und das Lernen der Gemeinden voneinander zu ermöglichen.
Die 2009 und 2012 ausgezeichneten Gemeinden zeigen, dass stets eine kritische Menge an Personen ausschlaggebend für eine baukulturelle Entwicklung ist. In Zwischenwasser in Vorarlberg etwa begann die Veränderung 1980 mit der Wahl von Josef Mathis zum Bürgermeister. Er erkannte, dass die großzügige Widmung von Baulandreserven an der Peripherie die Gemeinde in eine untragbare Kostenbelastung für die Erschließung stürzen könnte und leitete die Änderung des Flächenwidmungsplans in die Wege. Statt in die Erschließung der Peripherie steckte die Gemeinde das Geld in die Zentren der drei Ortsteile und setzte auf gute Architektur. Statt eine Bebauungsverordnung zu erlassen, führte die Gemeinde 1992 einen Fachbeirat ein.

„Das ermöglicht der Architektur, sich zu entwickeln, statt uniform zu sein”, so Josef Mathis. Seit Zwischenwasser im Jahr 2009 den LandLuft-Baukulturgemeinde-Preis erhalten hat, pilgert er durch die Lande und erzählt bei Vorträgen, wie man Baukultur entwickeln kann. Ohne Bürger, die sich engagieren und von der Gemeindeverwaltung nicht daran gehindert werden, geht das jedoch nicht. In Zwischenwasser sind teilweise Projekte entstanden, die ohne die Initiative und Mithilfe der Bevölkerung gar nicht möglich gewesen wären. Dazu zählen zum Beispiel die Solarschule und das Mitdafinerhus für betreutes Wohnen im Ortsteil Dafins oder die Aufbahrungshalle aus Stampflehm in Batschuns, die ohne Freiwilligenarbeit nicht leistbar gewesen wäre. Auf die Unterstützung der Bürger kann auch die Gemeinde Neckenmarkt im Burgenland zählen. Dort sollte eine größere, schönere und funktionellere Aufbahrungshalle gebaut werden, doch dann kam die Finanzkrise und machte die Pläne fast zunichte. Nach einem Hilferuf des Bürgermeisters Hans Iby half letztlich die Bevölkerung mit Taten und Spenden mit, den Bau zu realisieren.
 
Baukultur geht vom Volke aus
In Ottensheim in Oberösterreich ging die Baukultur zuerst von der Bevölkerung aus und wirkte dann auf die Politik. Anfang der Achtzigerjahre entstand dort eine Initiative für neues Wohnen in verdichtetem Flachbau mit Gemeinschaftseinrichtungen und Mitbestimmung bei der Planung. Damit war ein Grundstein für die Beschäftigung mit Architektur und Baukultur gelegt, und es siedelten sich weitere Menschen an, die Interesse daran hatten. Als die Gemeindevertretung Mitte der Neunzigerjahre das Gemeindeamt am Ortsrand neu bauen und das Gebäude am Marktplatz aufgeben wollte, formierte sich eine Bürgerliste dagegen, deren Mitglieder zum Teil aus der Baubewegung kamen. Sie verhinderten nicht nur die Entwertung des Ortskerns, sondern stellen seit 2003 auch die Bürgermeisterin.

Das Gemeindeamt übersiedelte 2010 in das denkmalgeschützte Gusenleitnerhaus am Marktplatz, das man mit Witz und Fantasie adaptierte und das einen Anbau für einen offenen Sitzungs- und Veranstaltungssaal erhielt. Ursprünglich wollten SUE Architekten den Sitzungssaal in einem Forum aus Glas direkt auf dem Marktplatz unterbringen. Bei einer Informationsveranstaltung kam es wegen einzelner Gegner jedoch zum Eklat, woraufhin die Idee aufgegeben werden musste. Sehr wichtig für das Leben in der Gemeinde war auch 2001 die Neugestaltung des Marktplatzes durch Boris Podrecca. Mittlerweile wird der Platz mit dem Wochenmarkt und anderen Aktivitäten intensiv bespielt. Derzeit versucht die Marktgemeinde, Leerstände im Zentrum zu beleben und die Zersiedelung zu verhindern. Das große Anliegen von Bürgermeisterin Uli Böker ist es, der Bevölkerung zu vermitteln, was Raumordnung bedeutet.

Damit trifft sie den Nerv der Zeit, denn an dieser hapert es in Österreich vielerorts. Der Baukulturreport 2006 schlug deshalb auch vor, das Prinzip Baukultur auf allen politischen Ebenen zu verankern und rechtliche wie fiskalische Rahmenbedingungen zu verbessern. Die Steiermark hat 2009 als erstes Bundesland baupolitische Leitsätze herausgegeben, die als Handlungsmaxime für Politik und Verwaltung dienen sollen. Die Stadt Salzburg war bereits 1983 Vorreiter mit der Installierung eines Gestaltungsbeirats, der sich als wichtiges Instrument für die Baukultur in Gemeinden herausgestellt hat. „Wenn man als politischer Entscheidungsträger die Gemeindeentwicklung ernst nimmt, dann braucht es einen Fachbeirat”, sagt Werner Müller, Bürgermeister der Vorarlberger Gemeinde Klaus.

Der Fachbeirat sei einerseits wichtig für die Beratung der Bauwilligen und die fachliche Beurteilung von Bauprojekten, andererseits nehme er Druck vom Bürgermeister, der Baubehörde erster Instanz ist, viele Bauwerber aber persönlich kennt. Die 13 Gemeinden des Vorderlandes in Vorarlberg haben die Baurechtsagenden deshalb mittlerweile der Baurechtsverwaltung in Sulz übertragen – eine Idee, die in ganz Österreich Schule machen könnte.
Ein weiterer Ansatz, der die Baukultur in den Gemeinden fördern kann, ist die Entwicklung eines Leitbildes. In den Vorarlberger Gemeinden Lauterach und Röthis oder im burgenländischen Neckenmarkt hat der Leitbildprozess viele Wünsche und Bedürfnisse der Bevölkerung zutage befördert und Weichen für die Zukunft gestellt – für Kultur, Architektur, Wirtschaft, Natur, Freizeit oder den öffentlichen Raum. In Waidhofen an der Ybbs war das städtebauliche Leitprojekt von Architekt Ernst Beneder entscheidend für eine Reihe von baulichen Entwicklungen, auch wenn einige seiner Ideen bisher nicht umgesetzt wurden.

Helmut Wallner, Bürgermeister von Hinterstoder in Ober­österreich, 2009 mit einem LandLuft-Baukulturgemeinde-Preis ausgezeichnet, sagte damals sehr deutlich, was Baukultur im Allgemeinen von Bauunkultur in einer Gemeinde unterscheidet: „Es kann nicht sein, dass das gebaut wird, was dem Bürgermeister gefällt, und dass das, was ihm nicht gefällt, nicht gebaut wird.” Franz Hopfgartner, Bürgermeister von Hopfgarten im Defereggental, weiß aus den Erfahrungen der vergangenen 15 Jahre, dass der andere Weg der weitaus bessere ist: „Wenn man zusammensteht, kann man etwas riskieren. Man muss nicht immer nach dem ‚Tiroler Lederhosenstil‘ bauen.”

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