Althan Quartier

Das formidable Überraschungsmenü

Architektur
03.07.2018

Der erstgereihte Entwurf, ein Terrassenhauskomplex der Wiener Architekten Artec, überzeugt durch architektonische Konsistenz und Stadtverträglichkeit. Er stellt die städtebau­lichen Ansagen des Auslobungstextes in den Schatten. Ein paradoxer Leistungsbeweis des Architekturwettbewerbs. 
Hochpark auf der Überplattung des ÖBB-Gleisbandes der Franz-Josefs-Bahn.
Hochpark auf der Überplattung des ÖBB-Gleisbandes der Franz-Josefs-Bahn.

Hochsommerliche Nachmittagsträgheit in den Außenbezirken einer europäischen Großstadt. Der weitgereiste und kulinarisch anspruchsvolle Stadttourist ist schon stundenlang unterwegs und etwas desorientiert. Block um Block wandert er weiter, durch das, was er Gründerzeit nennt. Vor mehreren Schanigärten und Speisekarten, hat er sich wegen unstimmiger Möblierungen oder Rechtschreibfehlern nochmals einen Ruck zum Weitergehen gegeben. Aber nun spürt er einen leichten Schwindel, das italienische Frühstück war schwarz und kurz und liegt schon lange zurück. 

Er hält inne, sieht sich auf einem nicht gerade einladenden, aber geschäftigen Platz mit vielen Haltestellen und einem kristallin-glänzenden Bürohaus – und direkt vor einem mit heller Plane beschatteten, halbleeren Gastgarten voll freundlicher Anmutungen. Dem Stadttouristen schwinden plötzlich die Kräfte und alle Vorsätze zum richtigen Mittagstisch. Er wankt, ohne eine Speisekarte zu konsultieren, an den erstbesten Tisch und sinkt in den Sessel. Der besorgt herbeigeeilten Bedienung sagt er nur: Wasser! Bringen Sie mir Wasser und Ihr bestes Menü, rasch zwei, drei Gänge, ich bin im Unterzucker. 

Das dem Stadttouristen unbekannte Restaurant tut sein Bestes. Schon das schlichte Wasser mundet besonders. Von Gang zu Gang staunt der Stadttourist mehr: Ohne zu wissen an wen, ist er hier offenbar an einen Meister seines Fachs geraten, und das gerade in einen Moment, in dem er zu keiner klaren Entscheidung fähig war. Er erlebt ein formidables Überraschungsmenü. Den glücklichen Zufall muss man sich manchmal hart erarbeiten, denkt sich der Stadttourist, als er gestärkt, hochzufrieden und wieder vollständig über seine ureigenen Wege und Ziele orientiert, das weithin als erste Adresse bekannte Lokal verlässt.

Nur ein Entdeckungsverfahren?

Dem Auslober (und den politischen Mentoren) des EU-weit ausgelobten, offenen, zweistufigen Realisierungswettbewerbs „Althan Quartier, 1090 Wien“ ist es so ergangen wie dem Stadttouristen: Ein vorerst unbekanntes Unternehmen hat gegen das Wunschdenken des Auslobers einen überzeugenden Leistungsbeweis erbracht und damit eine falsch gestellte Frage ganz im Sinne des größeren Ganzen beantwortet. Man kann das eine Paradoxie nennen, wenn eine Ideenkonkurrenz ihren Auslober „rechts überholt“. Allerdings hält eine Theorie des Wettbewerbsbegriffs genau das für eine herausragende Eigenschaft ökonomischer Ideenkonkurrenz: „Die Ergebnisse eines Entdeckungsverfahrens sind notwendig unvoraussagbar“, sagt Friedrich August von ­Hayek 1969 in „Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“.

Daraus abgeleitet kann auch der Architekturwettbewerb als ein Vorgang verstanden werden, bei dem für ein Thema unerschlossenes Wissen entdeckt, aktiviert und in verwandelter Form verbreitet wird. Nie kann das gesamte projektrelevante Wissen bei den Akteuren ­eines Projekts präsent sein. Solches Wissen, etwa über die Strukturen einer Stadt, kann auch nicht einfach digital herbeigeschafft werden, sondern es ist von schöpferischen Kräften zu erschließen. Es ist eine Hauptaufgabe des Architekturwettbewerbs, das Wissen und die Talente der Teilnehmer für ein Vorhaben zu entfalten, insbesondere wenn es groß und schwierig ist, damit das öffentliche Interesse berührt und die Baubehörde auf den Bebauungs-Plan gerufen wird.

Eine Kritik des Wettbewerbs zum Althan-Quartier könnte mit Hayek also zum kurzen Schluss kommen, dass hier das Entdeckungsverfahren dank glücklicher Umstände einfach gut funktioniert und eine vereinzelte architektonische Innovation zutage gefördert hat. Gute Wettbewerbsergebnisse sind – dem ist grundsätzlich zuzustimmen – unvoraussagbar, und das Gewinnerprojekt hat nun tatsächlich alle überrascht. Dieser Wettbewerb könnte somit als rundum gelungenes Exempel seiner Art gesehen werden.

Bemerkenswert und irritierend für geschulte Beobachter ist aber auch, dass nur eine einzige unter dreißig Wettbewerbsarbeiten der ersten Stufe das letztlich sinnstiftende Konzept einer kompakten, liegenden Baumasse konsequent verfolgt hat. Die klar argumentierenden Protokolle zeigen, dass das Preisgericht beim späteren Gewinner schon in der ersten Stufe trotz der wesentlichen, riskanten Unterschreitung der Ausnützung den Ansatz „in einem erstaunlich hohen Maß glaubwürdig“ findet und bestärkt; in der zweiten Stufe wird ihm konstatiert, dass er „trotz deutlicher Erhöhung der Bruttogeschoßfläche geradezu in weiten Teilen an Qualität zulegen konnte“. So klingt Erleichterung.

Vor allem ein Auswahlverfahren!

Kann ein Architekturwettbewerb wirklich nur ein Entdeckungsverfahren für einen Solitär sein, muss es nicht sogar vorrangig ein Vergleichsverfahren, ein „prinzipiell qualitätsbasiertes, projektorientiertes Auswahlverfahren“ unter einer Vielfalt avancierter Vorentwürfe (wie das der Wettbewerbsstandard Architektur in Abs. 1 Art. IV definiert) sein? Für eine Bilanz des zufriedengestellten Auslobers könnte die Entdeckungs-Theorie Hayeks ausreichen. Aber für eine Kritik aus der generellen Sicht des Architekturwettbewerbs, die auch nach dem Zusammenhang von Aufgabe und Teilnahmerisiko fragt, ist dieser Schluss zu oberflächlich. 

Eine umfassende Verfahrenskritik muss das den Architekturwettbewerb tragende Paradigma von der Vielfalt in der Auswahl einbeziehen. Die Vielfalt, die Schwester der Vergleichbarkeit – das kann in einem Verfahren, das Transparenz über die getroffenen Qualitätsentscheidungen herzustellen sucht, nicht anders gesehen werden. Vielfalt und Vergleichbarkeit sind bestimmt von den (un)erklärten Absichten des Auslobers. Die systemkritische Analyse geht von der Schlüssigkeit der Ergebnisse der Projektentwicklung aus, hinterfragt die Wahl der Verfahrensart im Hinblick auf Umsetzungsorientierung und Lösungskraft, untersucht die Aufgabenstellung auf angebotene Freiheitsgrade und immanente Widersprüche und hat letztlich die Regelhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit des protokollierten Beurteilungsvorgangs im Fokus.

Wettbewerb als Umsetzungsphase

Im Wettbewerbshandwerk ist gewiss, dass ein Realisierungswettbewerb, der die Vergabe der Architektur- bzw. Objektplanung vorbereitet und einen Architekten- oder Generalplanerauftrag verspricht, ein früher Teil der Planungsphase Projektumsetzung und ausdrücklich nicht ein später Teil der vorlaufenden Planungsphase Projektentwicklung ist. Erst wenn das Vorhaben hinreichend konkret entwickelt ist, kann an die Festlegung der architektonischen Gestalt gedacht werden. Die Klärung städtebaulicher Randbedingungen soll in der Projektentwicklung durchaus im offenen Ideenwettbewerb erfolgen.  

Das Vorhaben Althan-Quartier ist Teil einer unumgänglichen Neuordnung des die Umgebung traumatisierenden Problemgebirges über der Franz-Josefs-Bahn. Die einzigartige Dimension dieser urbanistischen Fehlstelle allein hätte der Stadt Wien Anlass zu einem gesamthaften städtebaulichen Ideenwettbewerb geben müssen. Stattdessen fand nach einer 2010 begonnenen Bürgerteilhabe zu den Zielen für den Stadtteil 2016–17 ein „dialogorientiertes Verfahren zur Entwicklung eines lokalen städtebaulichen Leitbilds mit Bürgerbeteiligung“ für den Kopfbau am Julius-­Tandler-Platz und das jetzige Wettbewerbsgebiet statt, das in ein Regelwerk mündete, das im März 2017 der Öffentlichkeit präsentiert und von der Stadtentwicklungskommission (STEK) beschlossen wurde.

Leitbild kein Ruhmesblatt

Das städtebauliche Leitbild, vor allem das anschauliche Regelblatt, ging als starke Wirkungsgröße in die Auslobungsunterlagen des Realisierungswettbewerbes ein. Es behandelt den Umbau des Kopfbaus samt dessen Aufstockung im Norden (nun mit 58,45 m der Hochpunkt des aktuellen Gesamtprojekts), die anschließende verfahrensgegenständliche Neubebauung (mit einer Hochhausentwicklung in zwei Höhenfenstern bis 126 m, nun vom Gewinner zurückgenommen auf 54,50 m) und die Umformung der Raums auf der Überplattung der ÖBB-Trasse (+ 9,0 m) mit einem Hochpark und einladenden Quer- und Längsdurchwegungen.

Das als Wettbewerbsgrundlage angediente städtebauliche Regelwerk stellt dem dialogorientierten Verfahren kein gutes Zeugnis aus. Den Bürgern des 9. Bezirks und der Fachwelt den Höhenbezug auf eine städtebaulich für das Althan-Quartier irrelevante Kommunalindustrieanlage anzudienen, kann nur dem Ritt eines Immobilienteufels durch das Rathaus geschuldet sein. Diese völlig missratene, spekulative Maßstabsetzung zeigt einerseits, dass der Dialog als Grundlagengeber versagt hat (der Bezirk verstand sich nicht als eingebunden) und streicht andererseits die Unersetzlichkeit eines vorgeschalteten offenen, in seinem Ergebnis von der Fachwelt akzeptierten städtebaulichen Ideenwettbewerbes heraus.

Die Projektentwicklung war offenbar mit dem Leitbild weder hinsichtlich fachlicher Aspekte der Ensemblebildung im Stadtteil noch hinsichtlich der politischen Koordinaten der Akzeptanzbildung im Bezirk abgeschlossen. Ein Realisierungswettbewerb hätte auf dieser wackeligen Basis nicht aufbauen dürfen. Die geringe internationale Beteiligung an diesem in seinem Auftragsversprechen sehr attraktiven, großen Wettbewerb zeigt auch, dass der Inhaltskern der Auslobung jenseits der Wiener Rufweite nicht überzeugt hat. Die 126-Meter-Grenze ist das Symptom für die fragwürdige, bodenausbeuterische Grundhaltung der Auslobung. Die Unterlagen erklärten den Teilnehmern zwar generös, „eine bedingt abweichende Interpretation der STEK-Entwicklungsziele, eine entsprechende Optimierung der Lage und Ausmaße der Höhenfenster sowie die Diskussion über die maximalen Gebäudehöhen generell (seien) vorstellbar“, sogar eine „bedingte Möglichkeit zur Neuinterpretation der gemäß städtebaulichem Leitbild beschriebenen Bebauungsstruktur (Baumassenverteilung, Gebäudehöhen, …) bezogen auf Bauplätze“ wurde eingeräumt. Es handelte sich aber um einen objektorientierten Realisierungswettbewerb, der zudem die Maximalhöhenphantasie im Regelblatt virtuos stimulierte. 

29 von 30 Wettbewerbern ließen sich in Abwägung ihres Teilnahmerisikos vom Regelwerk zu hochaufragenden Bauteilen motivieren, obwohl eine von allen Kriterien verlassene Höhenlizitation für das konsolidierte Wien seit den Vorgängen am Heumarkt in Verruf ist. Am Heumarkt setzten im Realisierungswettbewerb 22 der 24 Teilnehmer auf das falsche Konzeptpferd, den Abbruch; faktisch wurde zwischen zwei Arbeiten entschieden. Die beiden Wettbewerbe verbinden unterkritische städtebauliche Randbedingungen; ihr Unterschied ist, dass im Althangebirge nun ein erstklassiger, realisierbarer Entwurf vorliegt, am Heumarkt nicht. 

„Bizarr, diese Bauhöhen“

Die Bezirksvertretung Alsergrund hat den politischen Dissens am 17. 1. 2018 an ihrem vehementen, den laufenden Realisierungswettbewerb gefährdenden Höhensturz festgemacht. Schon lange davor legten sich die späteren Gewinner auf eine analoge Position fest, wie sie kürzlich in einem Kurier-Interview klarstellten: „Wir fanden es bizarr, dass diese Bauhöhen an dieser Stelle entstehen können sollen.“ Auch ARTEC hat hohe Baumassen erwogen, aber rasch die Unvereinbarkeit mit der historischen Stadt, verkörpert durch das Meer umgebender Bauten, mit 25 Meter hohen Bauten und das landschaftliche Weichbild, erkannt.

In der Selbstbeschränkung ARTECs liegt eine Respektbezeugung gegenüber der Stadt: Ihre 54,50 Meter bedeuten als städtebauliches Signal für Wien mehr als die fiktiven 126,00 Meter! Dieser auch Laien eingängige, zeitlos gültige Zusammenhang des Neuen mit dem Alten wird der Stadt Wien helfen, die Bebauungsplanung abzuschließen und dem Auslober helfen, das Vorhaben zu realisieren. Und überhaupt: Normalerweise sollte man bewusst darauf achten oder sogar planen, wohin man was essen geht. (dd)

www.artec-architekten.at

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