Xu Tiantian: Heilende Akupunkturinterventionen

Architektur
20.05.2019

 
Xu Tiantian hat gerade den Moira Gemmill Prize für Emerging Architecture bei den Women in Architecture Awards 2019 gewonnen. Ihre heraus­ragende Arbeit verbindet architektonische Visionen mit psychologischem Wissen. Bis jetzt hat sie mit ihrem Büro DnA mehr als 20 Projekte in der ländlich geprägten Region Songyang ­County in der Provinz Zhejiang südlich von Shanghai geleitet. Sie bezeichnet ihre Methode, die viele kleine Eingriffe kombiniert, als „architektonische Akupunktur“. Forum traf sie anlässlich der Ausstellung „Rural Moves“ im AzW. Susanne Karr im Gespräch mit Xu Tiantian

In Ihren verschiedenen Projekten in Songyang verwenden Sie unterschiedliche Strategien, aber der gemeinsame Bezugspunkt liegt in einer Methode, die Sie als „architektonische Akupunktur“ bezeichnen. Wofür genau steht dieser Begriff?
Xu Tiantian: Architektonische Akupunktur ist eine Strategie, die hilft, ein Gebiet zu erschließen. In der Akupunktur möchten wir die Durchblutung erhöhen, nicht nur wie in der Chirurgie eine einzelne, bestimmte Stelle behandeln. Wir arbeiten in verschiedenen Dörfern und versuchen, Verbindungen zwischen ihnen herzustellen.

Das erinnert an Systemtheorie. Wenn man ein winziges Teil ändert, ändert sich alles.
Jedes Dorf wird durch seine eigene Identität motiviert, die zur Attraktion für andere Dörfer werden kann. Es findet dann mehr Interaktion statt. So wird beispielsweise in einem Dorf eine Porzellanfabrik gegründet. Dort kann man Flaschen herstellen, für Produkte wie etwa braunen Zucker oder Reiswein aus den anderen Dörfern. Auf diese Weise entsteht ein Wirtschaftskreislauf. 

Wie sind Sie auf die Region aufmerksam geworden?
Wir erhielten einen Auftrag für ein Hotelprojekt in einer Teeplantage. Die Verantwortlichen der Regionalregierung haben unsere Meinungen und Ratschläge zur Dorfentwicklung eingeholt. Zunächst erhielten wir kleine Aufträge und setzten diese als Pro-Bono-Projekte um.

Das heißt, Sie haben nichts für das Projekt berechnet?
Ja, aber das hat sich gelohnt. Unser erstes Projekt war die Renovierung des Dorfzentrums. Die Gemeinde wollte die leerstehenden, verlassenen Bauernhäuser abreißen, die sich in einem sehr schlechten Zustand befanden. Wir haben der Regierung vermittelt, wie wichtig es sei, das alte Dorf zu erhalten. Es ging nicht um die Qualität des Gebäudes, sondern um den Stoff, die Textur. Wir schlugen kostenlos ein Renovierungskonzept vor. Wenn die Renovierung von Häusern in solch schlechtem Zustand gelänge, dann hätten alle alten Häuser eine Chance.

Also wurde dieses erste Beispiel benutzt, um zu zeigen, was machbar sei.
Genau, und alle liebten die neuen Räume. Wir arbeiteten als Berater mit freien Gestaltungskonzepten und ermutigten die Regierung, nur in die Baukosten zu investieren, die mit etwa 120.000 Euro gering waren. Das war also kein großes Risiko.

Wie ließ sich das mit dieser kleinen Summe umsetzen?
Am Anfang war es eine Herausforderung, aber ein Projekt nach dem anderen funktionierte sehr gut. Das Konzept war für die Regierung risikofrei und bot neue öffentliche Programme in den Dörfern. Es war uns wichtig, den Maßstab gering zu halten, denn bei einem kleinen traditionellen Dorf mit tausendjähriger Geschichte darf die Intervention nicht zu aggressiv sein. Nach etwa einem Jahr begannen wir auch die lokale Gemeinschaft anzusprechen. Die Idee war immer, die ländliche Identität wiederherzustellen, in erster Linie der Gemeinde und dem Dorf zu dienen. Wir sind zwar offen für Tourismus, sehen ihn aber als zusätzliche Ressource zur Akupunktur. Wir arbeiten daran, den Tourismus zu integrieren. Akupunktur ist ein Begriff, den die Menschen verstehen, weil er aus der chinesischen Medizin stammt. Es geht nicht um einen massiven Eingriff wie bei einer Operation, Akupunktur bedeutet Heilung und Erholung. Liu Shouying, Professor für Wirtschaft, beschreibt das so: „Das Dorf ist fast tot. Aber es atmet noch.“ Akupunktur bedeutet, blockierte Energie freizusetzen. Wir helfen der Gemeinschaft, sich zu ­er­holen.

Eine schöne Sichtweise des Prozesses.
Es geht um kleine Projekte. Wir gehen auf die lokalen Gegebenheiten ein, respektieren das Erbe und arbeiten mit der lokalen Gemeinschaft, mit lokalen Arbeitskräften. 

Sie führen auch Workshops für die Dorfbewohner durch, um ihr Fachwissen zu erweitern.
Unsere Projekte werden größtenteils von der Regierung finanziert. Wir geben nicht viel Geld aus. Wir polieren nicht ein einziges Schmuckstück, sondern suchen nach einer kontinuierlicheren, nachhaltigen Strategie. Die Finanzierung erfolgt aus verschiedenen Mitteln. Zum Beispiel investiert die Bezirksregierung den Großteil von 60 Prozent, die Stadtverwaltung gibt 20 Prozent, sodass die Dorfgemeinschaft die restlichen 20 Prozent aufbringen muss. Sie wird von Anfang an in die Arbeit einbezogen. Wenn 80 Prozent des Geldes bereits gesichert sind und man sich nur um 20 Prozent kümmern muss – warum sollte man das nicht versuchen? Dies ist eine Möglichkeit, Menschen am gesamten Prozess zu beteiligen. Jedes Dorf ist anders, hat unterschiedliche Bedürfnisse. Wir verwenden Materialien und Architekturen, die bequem und vertraut sind. Unsere Strategien umfassen viele Ebenen, viele Schichten, nicht nur Architektur.

Wie gelingt es, sich über die Besonderheiten der verschiedenen Dörfer zu informieren? 
Wir beginnen mit der Erforschung der Geschichte und mit Diskussionen. Für die ersten beiden Dörfer war es offensichtlich: Jeder weiß, dass Xing den besten braunen Zucker hat, und Shicang die Hakka-Tradition (Hakka: Menschen aus nördlichen Regionen). Und auch eine Tofu­fabrik haben wir renovieren lassen, sie ist in der aktuellen Ausstellung „Critical Care“ im AzW zu sehen. Das Projekt wurde kürzlich abgeschlossen.

Durch diese Interventionen wird die Produktion von Spezialitäten wieder aufgenommen und verstärkt ...
In einem anderen Dorf, hoch oben am Berg, gibt es eine Reisweinfabrik. Wir suchen nach der Einzigartigkeit jedes Dorfes. So hat etwa das Dorf Wang keine besondere Landschaft. Die Bewohner waren sehr passiv, obwohl es genug Arbeitsplätze in den Fabriken gibt. Aber sie hatten kein vergleichbares Vertrauen in die Zukunft. Die Identität des Dorfes war nicht mehr vorhanden.

Wollten sie eher in die Stadt ziehen?
Sie waren einfach nicht stolz auf ihr Dorf, wie die anderen. In Wang fanden wir heraus, dass der einzige Grund, stolz zu sein, die Rolle des Dorfes in der Geschichte war. Einer der Vorfahren, Wan Jing, war eine der drei wichtigsten historischen Persönlichkeiten der Grafschaft, ein kaiserlicher Gelehrter. Auf ihn waren alle sehr stolz. In diesem Moment beschlossen wir gemeinsam, eine Gedenkhalle im Zentrum des Dorfes einzurichten.

Vorher gab es kein Denkmal?
Es gab nur den Ahnensaal, wie in jedem anderen Dorf. Aber es gab keine Gedenkhalle für Wan Jing. Alle waren glücklich über das Programm. Wir konnten den Plan am ersten Tag unseres Besuchs festlegen. Eine schnelle Entscheidung, für die es notwendig war, im Vorfeld durch die Geschichte zu graben, unter die Oberfläche zu schauen. Tief im Inneren findet man die verborgenen Schätze, die für die Gegenwart wertvoll sind. Das verstehen wir unter dem Prozess „die Identität des Dorfes wiederherstellen“. Durch die Gedenkhalle hat man Selbstvertrauen gewonnen und ist stolz geworden. Man ist bereit, die Straßen zu pflastern und die abgerissenen Häuser zu reparieren. Es gibt zwar in der Nähe des Dorfes keinen malerischen Berg oder Fluss, dafür aber diese Ebene der Kultur – und Besucher, die das Gebäude sehen wollen. Die Dorfgemeinschaft initiierte ein kleines Teehaus und ein kleines Restaurant auf dem Gelände.  

Wie war es, aus der Stadt nach Songyang zu kommen?
Am Anfang sehr schwierig. Man könnte meinen, in diesen malerischen Landschaften sei es einfach zu arbeiten. Nein, ist es nicht. Und da wir immer wieder auf ein neues Dorf zusteuern, in dem wir vorher nie gearbeitet haben, bleibt unsere Arbeit eine Herausforderung. Auch wenn die Menschen inzwischen engagierter sind.

Wie überzeugen Sie sie?
Mit kleinen Schritten. Akupunktur ist die Metapher. Dazu gehört die Achtung von Identität und Kontext, des Erbes. Das Design kann Vertrautes, aber auch Modernes bringen. Wir präsentieren kein aggressives Programm und verzichten auf komplizierte akademische Sprüche. Wir verwenden eine einfache Sprache und schaffen Verbindungen zwischen den Orten und den Menschen. 

Wie kann man Übertourismus vermeiden?
Von der Region Songyang aus braucht man mit dem Auto mindestens drei Stunden nach Hang­zhou und sechs Stunden nach Shanghai. Es ist ein ziemlich abgelegenes Gebiet mit wenig Tourismus. Die lokale Regierung hat eine Verordnung erlassen, um die Tourismusentwicklung zu begrenzen. Nicht jedes Haus kann ein Bed & Break­fast oder Familienrestaurant sein. Die Region öffnet sich zwar, aber der Tourismus ist nicht die Priorität. Man kann das etwa über die Einschränkung von Parkplätzen und Unterkünften steuern.

Arbeitet DnA immer in „traditionellen Dörfern“? Welche Regelungen gibt es zum Denkmalschutz seitens der Regierung? 
Nicht alle Dörfer kann man „traditionell“ nennen. In Zang zum Beispiel, wo die Fabrik für braunen Zucker steht, gibt es zahlreiche moderne Häuser, die erst in den 1990er Jahren gebaut wurden.

Damals gab es noch keinen Schutz für traditionelle Dörfer?
Nein. Diese Art Denkmalschutz durch das Ministerium hat erst kürzlich begonnen. Aber nicht alles muss traditionell sein: Im modernen Umfeld haben wir eine moderne Fabrik gebaut. Wir arbeiten mit dem, was da ist, respektieren die aktuellen Bedürfnisse. In gewisser Weise arbeiten wir nicht an der Konservierung einer festen, physischen Form, sondern an der Erhaltung des immateriellen Erbes, in diesem Fall der handwerklichen Herstellung von braunem Zucker. Der Prozess ist eine markante Leistung der „Kochmeister“. Künstler haben aus dem Prozess eine Tanzperformance gemacht. Die Kochszene ist ein Theater, eine Bühne. Das Stück: Wie wurde in alten Zeiten brauner Zucker hergestellt? Wir haben den Produktionsraum als zentrale Bühne gestaltet, auf der die Besucher die Performance sehen können. Es ist ein offenes Geschoß, das sich zum Dorf, zu den Bergen öffnet. Alles ist verbunden, auch optisch. Es ist ein Museum und gleichzeitig ein Theater. Das verstehen wir unter Erhaltung.

Es geht also nicht unbedingt um die Erhaltung materieller Gebäude.
Nein, es geht um die Kontinuität des Lebens.

XU TIANTIAN
1975 in Fujian geboren ist Xu Tiantian die Gründerin des Architekturbüros DnA_Design and Architecture in ­Peking. Sie erhielt ihren Master of Architecture in ­Urban Design an der Harvard Graduate School of Design, nach einem Architekturstudium mit Bachelorabschluss an der Tsinghua University in Peking. Bevor sie DnA Peking gründete, arbeitete sie in den Vereinigten Staaten und den Niederlanden. 2006 erhielt sie den World Architecture China Award und 2008 den Young Architects Award der Architectural League New York. Sie hat sich eingehend mit der Revitalisierung ländlicher Gegeneden in Songyang beschäftigt. 2019 wurde sie mit dem Moira Gemill Prize für Emerging Architecture bei den Women in Architecture Awards ausgezeichnet.

www.designandarchitecture.net

"Akupunktur ­bedeutet, blockierte Energie freizusetzen. Wir helfen der Gemeinschaft, sich zu erholen."

- Xu Tiantian

Branchen
Architektur