Von Reisen und Räumen: Architektur erleben
Marion Kuzmany kuratiert Architekturreisen, die neue Bauten, historische Meilensteine und verborgene Orte verbinden. Mit ihrem fachlich fundierten und vielseitigen Programm spricht sie nicht nur Architekt*innen, sondern auch ein kulturinteressiertes Publikum an. Ein zentraler Bestandteil ihrer Arbeit ist der direkte Austausch mit Architekt*innen vor Ort.
Reisen erweitert den Horizont und ist eine Quelle der Inspiration. Das gilt ganz besonders für die Architektur. Marion Kuzmany ist Architektin und Gründerin von Arch On Tour. Seit vielen Jahren konzipiert sie unter dieser Marke Architekturreisen, die Baukunst im kulturellen und gesellschaftlichen Kontext erlebbar machen. Im Gespräch erzählt sie von den Ursprüngen ihrer Arbeit, ihrem besonderen Zugang zur Architekturvermittlung und ihren Lieblingsorten, die an Architektur interessierte Menschen unbedingt einmal live erleben sollten.
Architektur & Bauforum: Heute prägen vor allem Architekturreisen deine Arbeit, obwohl dein beruflicher Hintergrund in Architektur und Design liegt. Wie hat sich dieser Weg für dich ergeben?

Marion Kuzmany: Alles hat mit Japan begonnen. Nach dem Architekturstudium in Wien war ich mit einem Postgraduate-Stipendium von 1993 bis 1995 in Tokio – und blieb danach, um beim Architekten Arata Isozaki zu arbeiten. Zurück in Wien war ich frustriert und wollte sofort wieder nach Japan. Ich organisierte also eine Reise für Studierende am Institut für Wohnbau der TU Wien, wo ich mein Diplom gemacht hatte. Es folgte gleich eine zweite Reise.
Im Architekturzentrum Wien übernahm ich die von Brigitte Redl initiierten Sonntagstouren. Die Architekturreisen „Arch on Tour“ gründete ich 2015. Parallel beschäftige ich mich auch zeitweise mit kleineren Architekturprojekten.
Bei deinen Reisen geht es nicht nur um Bauwerke, sondern um deren Einbettung in ein lebendiges Umfeld. Welches Konzept verfolgst du bei der Zusammenstellung deiner Reisen?
Der rote Faden ist immer die zeitgenössische Architektur, aber auch historische Projekte fließen ein. Außerdem integriere ich Aspekte aus der Kultur. Wenn in einem architektonisch interessanten Gebäude eine gute Ausstellung oder ein Konzert stattfindet, dann besuchen wir diese. Besondere Innenraumgestaltungen und Design-Aspekte binde ich ein.
Wichtig sind schöne Hotels und Restaurants – Orte mit architektonischer Qualität. Ein zentraler Aspekt ist das Erfahren und Begehen eines Gebäudes. Man erlebt Architektur erst richtig, wenn man sie aktiv durchschreitet, den Kontext spürt, das Leben vor Ort wahrnimmt. Das ist essenziell, um Architektur zu verstehen.
Wie verbindest du klassische architektonische Highlights und moderne Meilensteine?
Rund um den Ausgangspunkt, der Wahl der Region oder ein konkretes Thema ergeben sich oft wie von selbst weitere Programmpunkte. Ein Baustein fügt sich zum nächsten, es entstehen stets neue Optionen, etwa durch Besichtigungen oder Kontakte zu Architekt*innen. Es ist ein komplexes Geflecht aus Planung, Zufall und menschlichen Komponenten.
Ist Nachhaltigkeit ein Schwerpunkt?
Nachhaltigkeit ist ein großes Thema. Es gibt heute viele Projekte im Bestand, bei denen renoviert oder weitergebaut wird. Da treffen sich Alt und Neu in einem Bauwerk. Wenn gut umgebaut, erweitert oder ergänzt wird, entsteht ein gegenseitiges Aufwerten von Bestehendem und Zeitgenössischem. Die Architekturgeschichte einer Stadt lässt sich ohnehin nur verstehen, wenn man Beispiele aus verschiedenen Bauepochen zeigt.

Wo könnte man Bauen im Bestand hautnah erleben?
Bei einigen Japan-Reisen besuchten wir in Osaka Projekte des Architekturbüros OFEA (Office for Environmental Architecture). Sie arbeiten an großartigen, unkonventionellen Projekten und raffinierten Ausbauten im Bestand, meist vorwiegend in Holz. Wir haben unter anderem das Gonda House besucht, ein skurriles Umbauprojekt eines bestehenden unscheinbaren Häuschens mit rohen, einfachen Materialien für ein Künstlerpaar.
Eine Zeit lang wurden viele der traditionellen Holzgebäude leider abgerissen – wegen Bauschäden oder weil sie als nicht mehr zeitgemäß galten. Doch inzwischen entwickelt sich vor allem in Kyoto ein Bewusstsein für deren Erhaltung und Reaktivierung. Wir haben einige dieser Projekte in Kyoto besucht, etwa das Issey Miyake shop und das „Kyoto Wand Café“, beides ganz besonders interessante Um- und Ausbauten traditioneller „Machiya-Häuser“.
Wie unterscheidet sich die moderne Architektur in asiatischen von jener in westlichen Ländern?
Die zeitgenössische Architektur in Japan unterscheidet sich von der Europäischen, obwohl sich die heute so vernetzte Welt zusehends gegenseitig beeinflusst. Auch die Baugesetze in Japan sind anders, sie erlauben mehr als bei uns. Und was den vorhin angesprochenen Umgang mit dem historischen Bestand betrifft: Einerseits sind junge, zeitgenössische Architekt*innen in Asien erstaunlich traditionsverbunden. Es ist faszinierend, wie sehr diese Traditionen in ihrer Gestaltung durchscheinen – wie stark sie ihre eigene Kultur schätzen und diese in neu interpretierte Formensprachen und Denkweisen übertragen.
Gleichzeitig vernichten sie ihr Architekturerbe und sogar eigene Projekte mit großer Selbstverständlichkeit. Kenzo Tange zum Beispiel hat in den 1970er Jahren in Tokio im Stadtteil Akasaka eines seiner Gebäude abreißen lassen, um dort etwas Neues – das Sogetsu Kaikan – zu errichten. Seine Begründung: „Es ist eine neue Zeit, das alte Gebäude passt nicht mehr.“ Abseits buddhistischer Erneuerungsgedanken spielten hier gewiss auch geschäftliche Interessen eine maßgebende Rolle.
Gleichzeitig werden Tempel mit höchster Sorgfalt gepflegt.
Genau. In Kyoto sind etwa die Tempel und die Kaiservillen und Gärten nationale Heiligtümer, wo jeder Grashalm und jedes Baudetail mit größter Hingabe erhalten werden. Flächendeckenden Denkmalschutz, wie wir ihn kennen, gibt es dort nicht. In Japan ist vieles von Gegensätzen geprägt. Zu fast jeder Aussage gibt es das Gegenteil.
Ich habe am Institut für Architekturgeschichte in Tokio studiert. Selbst mein dortiger Professor, der bekannte Architekturhistoriker Hiroyuki Suzuki genierte sich für „südostasiatisch anmutende“ Stadtgebiete. Man wolle lieber eine moderne Stadt nach amerikanischem Vorbild schaffen. Ganze erhaltenswerte Stadtviertel werden zusehends abgerissen und durch riesige Glastürme ersetzt. Dennoch setzte sich das Institut für eine Art von Denkmalschutz, vor allem auch für die Bauten aus dem 20. Jahrhundert, ein.

Das Thema Glasfassaden hat hohe Relevanz, weil so viele Vögel durch Kollisionen sterben. Beobachtest du Bestrebungen, umzudenken?
Glashochhäuser sind heute nicht mehr so begehrenswert wie in den 1980er Jahren. Auch wenn manche Architekt*innen vielleicht immer noch den Bau des höchsten Glasturms der Welt als besondere Auszeichnung betrachten. Es ist nicht mehr zeitgemäß – weder klimatisch noch städtebaulich oder ökologisch. Wenn wir auf Reisen sind, schauen wir uns solche Gebäude oft trotzdem an – weil viele Teilnehmer*innen das einfach sehen möchten. Und das verstehe ich.
Was den Vogelschutz betrifft – da weiß ich zu wenig im Detail. Das Problem ist sicher bedenklich und ich hoffe, dass hier international mehr Bewusstsein entsteht.

Wie würdest du eure Reisen aus der Perspektive Umwelt und Naturschutz beschreiben?
Massentourismus, mit den bekannten negativen Auswirkungen, finde ich in jeder Hinsicht grauenhaft. Mit unseren relativ kleinen Arch-On-Tour-Gruppen und maximal vier Reisen im Jahr sind wir verschwindend gering in der Gesamtbilanz, dennoch ist mir die eigene Vorbildwirkung bewusst. Ich würde gerne mehr mit dem Zug reisen und wünsche mir, dass das Zugnetz besser ausgebaut wird – dass man zum Beispiel so schnell von Wien nach Venedig kommt wie von Tokio nach Okayama. Streng genommen dürfte man wahrscheinlich keine Flugreisen mehr anbieten. Mit dem Zug nach Japan zu reisen, wäre allerdings keine Alternative!
Bei der Auswahl der Unterkünfte achte ich auf Nachhaltigkeit – dass Hotels ökologisch sinnvoll betrieben werden. Nach Möglichkeit bevorzuge ich kleinere Häuser, die gut in die Landschaft eingebettet sind. Es gibt viele gelungene architektonische Beispiele, die den Umgang mit der Umgebung ernst nehmen.
Ein Blick in die Zukunft – sagen wir, die Welt wird noch digitaler, noch inklusiver, noch ökologischer: Wie stellst du dir deine Reisen in Zukunft vor? Würde sich etwas grundlegend ändern?
Wenn ich mir ein futuristisches Szenario vorstelle, dann wäre das Wichtigste der Transport – wie gesagt, ein besser ausgebautes Zugnetz nicht nur in Europa, sondern auch global. Dass man schnell, bequem und nachhaltig reisen kann.
Und ein weiterer Punkt ist die Entwicklung des Smartphones, die das Reisen mit Anwendungen wie Google Maps und Whatsapp oder anderen Kommunikationsapps enorm erleichtert. Ob es in den nächsten zehn bis vierzig Jahren wieder so große Veränderungen geben wird, wie etwa von den 1990er Jahren bis jetzt, weiß ich nicht. Wahrscheinlich schon.
In den 1990er Jahren bin ich in Tokio als Studentin mit einem Stadtplan herumgelaufen, der so dick war wie ein Telefonbuch und habe oft tagelang Adressen gesucht. Es gab kein Internet, und wenn ich telefonieren wollte, bin ich nachts mit einer Wertkarte zur Telefonzelle gegangen. Die Entwicklung seither ist enorm. Heute reicht eine eSIM, und man ist online und kann sich problemlos orientieren sowie kommunizieren.
Es geistern immer wieder VR-Brillen und virtuelle Reisen durch die Diskussion. Kann man echtes Reisen ersetzen?
Es ist heute sicher vorstellbar, dass man eines Tages alles über VR erlebt, ohne tatsächlich zu reisen. Die inhaltliche Aufbereitung wäre allerdings zumindest derzeit noch aufwändig. Ob sich das je breit durchsetzen lässt, ist in vielerlei Hinsicht fraglich.
Man weiß ja nie – vielleicht sitzen wir in zehn Jahren gar nicht mehr hier, sondern schicken nur unsere Avatare…
Das Entscheidende ist nicht nur das Erleben des Raums, das sich derzeit mit VR bis zu einem gewissen Grad ja sehr gut darstellen lässt, sondern auch der urbane Kontext! Und ich weiß nicht, ob man das mit einer VR-Brille auf allen Sinnesebenen vollständig erfassen kann.
Außerdem bin ich überzeugt, dass die Begegnung mit Menschen durch keine VR-Brille ersetzt werden kann. Auch das haptische Erleben, wenn man in einem anderen Land ist und tatsächlich Architektur spürt, lässt sich derzeit technisch zum Glück noch nicht nachbilden.
Was ist die eine Reise, die jede*r Architekt*in im Leben unbedingt gemacht haben sollte?
Die Interessen sind sehr unterschiedlich. Es gibt Architektur-Ikonen, bei denen viele das Gefühl haben, man „muss“ dort gewesen sein. Le Corbusier ist als einer der Väter der modernen Architektur eine zentrale Figur. Seine Bauten sind über die Welt verteilt: In Indien etwa die Projekte für Chandigarh und Ahmedabad, in Marseille die Unité d’Habitation.
Die Bauhaus-Spuren in Dessau und Weimar sind wichtig. Und die japanische Teehausarchitektur und „Sukiya-Stil“– gerade, weil es da einen spannenden Austausch gab. Viele japanische Elemente sind ins Bauhaus eingeflossen und umgekehrt.
Auch Palladiobauten sind legendär und besuchenswert, wenn sich auch seine Werke aus dem 16. Jahrhundert historisierend an der griechischen Antike orientieren. Aber die vier Bücher zur Architektur, in denen Palladio architektonische Grundprinzipien, Beschreibungen von Materialien, Bautechniken, Geometrien und Säulenordnungen darstellt – sind ein wichtiges Lehrwerk.
Ein persönlicher Favorit von mir ist Carlo Scarpa, der im Veneto und in Venedig einige wunderbare Projekte realisiert hat. Bei ihm verschmelzen Design und Architektur in besonderer Weise. In Wien wird Adolf Loos gerne von internationalen Architekt*innen besucht. Oder die Villa Tugendhat von Mies van der Rohe in Brünn ist ein Klassiker. Ursprünglich wollte ich eine einzige Reise dorthin machen, mittlerweile waren wir mit meinen Gruppen 25 Mal dort!

Gibt es für dich persönlich einen Ort, bei dem dir das Herz aufgeht?
Auf jeden Fall Japan. Abgesehen vom traditionell japanischen Haus haben mich unter vielem anderen das Teshima Museum von Ryue Nishizawa und die Odawara Foundation von Hiroshi Sugimoto und der Zenbo Zeinei von Shigeru Ban besonders fasziniert.
Und Italien. Dort ist fast jedes kleine Dorf sehenswert – man entdeckt ständig Neues.
Architektonisch äußerst interessant fand ich auch unsere Arch on Tour nach Skopje. Dort hat Kenzo Tange nach dem verheerenden Erdbeben von 1963 einen Masterplan mit sehr visionärer Stadtplanung entworfen. Das ist einer der wenigen Fälle, in denen ein solcher Plan tatsächlich umgesetzt wurde.
Wo entstehen derzeit die aufregendsten architektonischen Projekte?
Als ich in den 1990er Jahren aus Japan zurück nach Österreich kam, gab es eine große Diskrepanz. Die zeitgenössische Architektur in Japan war damals sehr viel weiter und mutiger. Inzwischen haben Österreich und ganz Europa unglaublich aufgeholt. In den Bereichen Umnutzung, Renaturierung und nachhaltige Stadtentwicklung tut sich viel. In Mailand zum Beispiel alte Fabrikhallen, die in Museen verwandelt wurden, etwa der Pirelli Hangar und viele mehr.
Auch in Seoul gibt es spannende Projekte. Besonders erwähnenswert ist das neue Fotografie-Museum von Jadrić Architektur, das den Austrian Green Planet Award gewonnen hat. Mladen Jadrić war Initialzünder unserer Korea-Tour im Mai 2026. Er hat uns auch den Kontakt zum Architekten Seung H-Sang vermittelt, der uns persönlich zu seinen neuesten Bauten führen wird.
Wie erfährt man vom Programm?
Wenn eine Reise aktuell ist, mache ich eine Aussendung an meinen Verteiler. Auf meiner Website www.archontour.at ist dann jedes einzelne Projekt des Tourprogramms mit den Websites der Architekt*innen verlinkt.
Vielen Dank für diese inspirierenden Einblicke. Das macht richtig Lust, selbst einmal mitzufahren.
Hören Sie hier das komplette Gespräch als Podcast!Zur Person
Marion Kuzmany ist Gründerin und Inhaberin von Arch On Tour. Sie ist Architektin und Expertin für Architekturreisen. Seit 1996 arbeitet sie sowohl im praktischen als auch theoretischen Architekturumfeld und konzipierte bis dato rund 320 Architekturexkursionen.




