Metallmöbel

Kurven aus Stahl

Metallmöbel
30.08.2023

Entdeckung mit Folgen - Wie aus einer Lenkstange eine neue Möbelspezies entstand.
Der Stuhl Flow von Living Divani
Stimmungsvolles Ambiente. Der Stuhl Flow von Living Divani, Entwurf: Shibuleru.

Alles begann mit einem Hocker, Beistelltischen und einem Prototypen für einen Clubsessel. Der damals erst 23-jährige Marcel Breuer, der am Bauhaus die Möbelwerkstatt leitete, fand in der Lenkstange eines Fahrrades eine Inspirationsquelle, die die Designwelt auf den Kopf stellen sollte. Auch war er auf die Erzeugnisse von Max und Reinhard Mannesmann gestoßen, die 1885 ein Schrägwalzverfahren zur Herstellung von nahtlosen Rohren entwickelt hatten, die aufgrund ihrer Beschaffenheit für Hygiene für Gesundheitseinrichtungen eingesetzt wurden. Diese hatten ihn neugierig gemacht. Mitten in den 1920er-Jahren, genau genommen 1925, war die Zeit zwar noch nicht reif, als Revolution anerkannt zu werden, doch gab es diejenigen, die sich von der neuen Frische, die den Stahlrohrmöbeln innewohnte, in den Bann ziehen ließen.

Industriell statt gewachsen

Das Reduziert-Glatte, das Maschinell-Gefertigte, das Unkonventionelle zeichnete diese neuartigen Möbel aus. Gebogen kannte man bisher nur Holz mit seiner warmen, gemütlichen Anmutung, die nun mit der Coolness des glänzend polierten Stahls in Konkurrenz sah. Diese war jedoch nur mittelbar, denn die erste Anhängerschaft war überschaubar und Holz war immer noch unschlagbar günstig. Und dennoch interessierte sich eine gebildete und kaufkräftige, vor allem kunst- und kulturaffine Bevölkerungsschicht immer mehr für die kaltgezogenen, spiegelnden Rohre, die Stück für Stück den Wohnraum eroberten und zu einer Art Statussymbol wurden.

Metallmöbel sind Teile eines modernen Raumes, denn die Möbel, sogar die Wände eines Raumes, sind nicht mehr massig, monumental.

Marcel Breuer

Klare Linie

Schon vorher hatte Marcel Breuer versucht, das bis dahin gültige Wohnbild zu verändern. Der gebürtige junge Ungar entwarf bereits 1921 einen Lattenstuhl im niederländischen De-Stijl-Look, der bereits Bewegung hineinbrachte und für Kopfschütteln sorgte. Doch er dachte weiter und gestaltete wenig später seinen ersten Stuhl aus Stahlrohr. Das Material bezog er aus den Junkers-Flugzeugwerken, die diese neue Bug- und Verarbeitungstechnik einsetzten. Einer seiner bekanntesten Entwürfe ist wohl der nach dem russischen und von Breuer sehr verehrten Maler Kandinsky benannten Clubsessel Wassily aus frei schwingenden Stahlrohren, der mit schwarzem Leder klassisch und elegant wirkte. Das besonders Bemerkenswerte daran ist, dass sich das Möbelstück aufzulösen scheint mit einer Leichtigkeit, die schließlich alle Stahlrohrmöbel auszeichnet.

Fahrtwind aufgenommen

Die Verhaltenheit zu Beginn schlug peu à peu in Begierde um, und Stahlrohrmöbel rückten nicht nur bei Designern in den Fokus, sondern wurden bei der Kundschaft immer mehr zum absoluten Nice-to-have. Die flammende Leidenschaft von Marcel Breuer, der an seiner Vision und Konzeption unbeirrt festhielt, erfasste auch weitere renommierte Architekten, Künstler und Krea­teure, wie beispielsweise Ludwig Mies van der Rohe, Mart Stam und Florence Knoll, die Marcel Breuers Zugang, dass ein Möbelstück in erster Linie zweckmäßig sein sollte, auf das Notwendigste reduziert werden und durch seine reine Funktion seine Ästhetik herauskehren kann, etwas abgewinnen konnten. Auch Eileen Gray, Charlotte Pérriand, Le Corbusier, Gerrit Rietveld, Hans Luckhardt, Erich Mendelsohn oder Alvar Aalto freundeten sich bald mit dem neuen Material an und gaben dem Möbeldesign ein neues Gesicht. Viele Entwürfe davon wurden weltberühmt, sind in internationalen Museen ausgestellt und sind die Klassiker schlechthin.

Den Bogen geschlagen

Schnell auf den Geschmack gekommen ist natürlich auch die Möbelindustrie selbst, die den Erfolg von Stahlrohr vorhersah und entsprechende Weichen stellte. Schon drei Jahre nach seiner „Erfindung“ schloss Thonet 1928 einen Vertrag mit Marcel Breuer. Im Grunde eine logische Entwicklung, denn es war das Unternehmen mit dem größten Know-how im Biegen – ideale Voraussetzungen für Marcel Breuer, um dort anzudocken.
Ein Jahr später übernahm Thonet auch Breuers 1926 gegründete Firma Standard Möbel. Bereits 1930 wurde im Werk Frankenberg eine eigene „Stahlabteilung“ eingerichtet. Die industrialisierte Bugholz-Technologie konnte auf das neue Material übertragen werden, denn es gab viele Parallelen: Man konnte unterschiedliche Modelle seriell und arbeitsteilig produzieren, zudem war Stahlrohr wie gemacht für den Möbelbau – leicht, stabil und federnd. So wurde Thonet in den 1930er-Jahren zum größten Stahlrohrmöbel-Hersteller der Welt. Mit Unterbrechung durch den Zweiten Weltkrieg nahm die Produktion und die Nachfrage Ende der 1960er-Jahre wieder Schwung auf, der bei Thonet bis heute mit einigen der wichtigsten Entwürfe, darunter Marcel Breuers Bestseller-Stuhl S 32, seinen Sessel S 35 oder Mies van der Rohes ersten Freischwinger S 533, anhält.

Ohne Schnörkel

Die Geradlinigkeit des Bauhauses in Kombination mit der Offenherzigkeit, technische Details zu zeigen, machte eine weltumspannende Karriere und hat sich bei vielen Möbelproduzenten durchgesetzt. Die Lust, auch die Grenzen des neuen Materials auszureizen, war groß. So ist wohl der Freischwinger die größte Innovation seiner Zeit, ein Stuhl ohne Hinterbeine und mit äußerst schlanken Dimensionen. Bald war Stahlrohr aus der Einrichtungslandschaft nicht mehr wegzudenken: Den Stühlen folgten Tische, Regale, Büromöbel und Sofas. Heute haben die zierlichen Rohre auch den Outdoorbereich erobert. Die Geschichte des Stahlrohrs ist also noch lange nicht zu Ende geschrieben.

Möbel aus Metall sind sozusagen in den Raum gezeichnet; sie hindern weder die Bewegung noch den blick durch den Raum.

Marcel Breuer
Branchen
Metall