Ein lichter Würfel markiert den Täterort

Redaktion Architektur & Bau Forum
26.06.2014

Auf dem ehemaligen Standort des „Braunen Hauses", der Münchner Parteizentrale der Nationalsozialisten, steht bereits das neue NS-Dokumentationszentrum, das nächstes Jahr am 30. April, dem 70. Jahrestag der Befreiung der Stadt durch US-amerikanische Soldaten vom Terrorregime der NSDAP, eröffnet werden soll.

Die Aufgabenstellung klang leicht paradox: Das neue NS-Dokumentationszentrum sollte einerseits eine klare, eigenständige Position inmitten der historisch aufgeladenen Topografie bilden, andererseits Ort der Aufarbeitung und Reflexion der geschichtlichen Zusammenhänge und Vorkommnisse sein. Bereits seit langem bestand die Forderung nach einem NS-Dokumentationszentrum in München, der Stadt, in der sich die NSDAP etabliert hatte und die mit dem zweifelhaften Beinamen „Hauptstadt der Bewegung” belegt worden war.
 
Der Ort der Täter
2009 wurde ein einstufiger, begrenzt offener Realisierungswettbewerb durchgeführt. In einem EU-weiten Bewerbungsverfahren wurden 50 Teilnehmer ausgesucht und außerdem zehn international renommierte Architekturbüros eingeladen. Dezidiertes Ziel des Wettbewerbs war die Ermittlung eines Projekts, das die Auseinandersetzung mit „der besonderen historischen Bedeutung des Ortes als Ort der Täter” markiert und gleichzeitig die „eindrückliche Kenntlichmachung des fundamentalen Bruchs mit der Geschichte des Standortes” aufzeigt. Zudem war kein repräsentativer Denkmalbau gewünscht, sondern ein funktionaler, demokratischer Lern-, Veranstaltungs- und Ausstellungsort.

Die Berliner Architekten Georg Scheel Wetzel gewannen den Wettbewerb. Mit einem weißen Kubus aus Sichtbeton, der in den vorhandenen Baumbestand gesetzt wird und durch seine Höhe deutlich über die bestehende Umgebung hinausragt, überzeugten sie das Preisgericht. Der Bau fügt sich gerade nicht der symmetrisch ausgerichteten Anlage der Brienner Straße, deren Erscheinungsbild zwar wesentlich dem Klassizismus des 18. Jahrhunderts entstammt, von den Nazis aber durch die Errichtung zahlreicher repräsentativer Verwaltungs- und Bürogebäude stark umgestaltet wurde. Als bewusster Störfaktor in der ansonsten ausgewogenen Gewichtung der Gebäude lenkt das Dokumentationszentrum die Blicke auf die Umgebung und deren historische architektonische Machtinszenierung.

Die Architekten Georg Scheel Wetzel setzen den Kubus als Gegengewicht dazu: Die axiale Platzfiguration wird aufgebrochen und ein explizit asymmetrischer Akzent in das Gefüge gebracht. Mit der Seitenlänge und der Höhe von 22, 5 Metern überragt der Kubus das Ensemble von Nazibauten, mit denen in den Dreißigerjahren der Anschluss an die vornehmen klassizistischen Stadtviertel rund um den Königsplatz gesucht wurde. Ganz dezidiert stellt sich der geradlinig minimalistische Entwurf mit den länglichen Fenstereinlassungen als Gegenposition zur Vorliebe für einen heroisch historisierenden Baustil und entwickelt Spannung in dem historisch besetzten Ensemble. Auch die größere Gebäudehöhe markiert das Dokumentationszentrum als Außenseiter des Ensembles. Trotz der topografischen Umschließung durch die historische Bebauungsstruktur will der ungerichtete Kubus als Bauwerk autonom wirken. Annäherungen an den Villenstil des Stadtviertels mit seinen frontal ausgelegten Straßenfassaden entfallen.
 
Die Konstruktion
Der Eingang führt über eine dem Gebäude im Westen vorgelagerte Terrasse, von der aus die Fragmente eines inzwischen mit Gras bewachsenen „Ehrentempels” der Nazizeit sichtbar sind. Markierungen auf dem Terrassenboden zeigen die Bebauungskonturen des „braunen Hauses”. Somit wird dieser Raum zunächst durch die Abwesenheit historischer Bauten erfahrbar, ähnlich wie bei archäologischen Grabungsarbeiten, wie Georg Scheel Wetzel erklären. Das Dokumentationszentrum versteht sich gänzlich als neuer Raum. Die Innenraumgliederung folgt den drei Erschließungskernen, die zu den Ecken des Baus verbundene Räume entstehen lassen. Hier werden die Ausstellungsräume entweder als Großraum oder abgeteilt zur Verfügung stehen. Durch Deckenausschnitte sind die einzelnen Ebenen miteinander verbunden und lassen teilweise zwei Geschoße übergreifende offene Bereiche entstehen.

Die zweigeschoßigen Lamelleneinschnitte öffnen die einheitlich weiße Fassade. Sie verweisen durch ihre Ausrichtung auf historische Blickwinkel. Von allen Fenstern des neuen Dokumentationszentrums aus bezieht der Bau das gesamte ehemalige Repräsentationsquartier in seine Sichtachsen ein. Die Öffnungen sind so konstruiert, dass in der Draufsicht von innen einzelne Bilder gesehen werden, in der Schrägansicht entstehen jedoch zusammenhängende ganze Bilder.

Historische Aufnahmen der Umgebung werden dem aktuellen Ausblick zur Seite gestellt. Zudem gibt es zwei Untergeschoße, die sich unterirdisch unter dem quadratischen Vorplatz des Gebäudes erstrecken und so die doppelte Grundfläche des Kubus erreichen. Darin befinden sich Seminarräume, Vertiefungsräume mit computergestützter Vermittlung weiterführender Informationen und ein Veranstaltungssaal mit kompletter Bühnentechnik. Es wird eine Handbibliothek geben. Auch sind dort Haustechnik und Lager untergebracht. Im sechsten und obersten Stockwerk befinden sich Büros und Tagungsräume, im fünften Empfangsräume. Unter der vorgelagerten Terrasse, außerhalb des Kubus, werden ein eigener Vortragsraum und ein Café mit den notwendigen Nebenräumen eingerichtet.
 
Material und Ausführung
Die Gebäudekonstruktion über die tragenden Kerne und Fassaden und die Deckenplatten besteht aus weißem Sichtbeton, der aus weißem Gesteinsmehl und Weißpigment hergestellt ist. Für den Boden in den Innenräumen wird der Weißbeton durch Schleifen als Terrazzo verwendet. Die Terrasse wird in Ortbetonbauweise mit Besenstrichoberfläche ausgeführt. Wichtige Kriterien der Ausschreibung waren eine ressourcen- und umweltbewusste Gesamtkonzeption. Zudem wurde eine energieeffiziente Bauweise gefordert.
 
Das Ausstellungskonzept
Die Ausstellung entwickelt sich über die vier Geschoße auf insgesamt 1.200 Quadratmetern. Vom oberen Stockwerk, das vom Foyer aus mit dem Aufzug erreicht wird, leitet sie über die offene Treppe hinunter ins Erdgeschoß. Im Foyer befinden sich Kasse und Buchladen sowie eine Infothek. Das Ausstellungskonzept konzentriert sich auf Vermittlung und Aufklärung. Anschauungsmaterial, hauptsächlich Fotografien und Filme, dokumentieren die politischen und sozialen Hintergründe der Geschichte der NSDAP. Die Besucher sollen eine Vorstellung davon gewinnen können, was sich in der „Hauptstadt der Bewegung” an Propaganda, aber auch an Widerstand abgespielt hat. Die von Carsten Gerhards entwickelte Ausstellungsgestaltung verwendet vertikale und waagerechte Elemente, vertikal etwa ein großformatiges historisches Bild, dazu erklärende Kontextualisierung: einerseits eine historische Eingliederung, andererseits eine Einordnung in Themenbereiche wie Demokratieabbau oder staatliche Willkür. Als waagerechte Elemente sind Medientische mit weiteren Informationen vorgesehen.

Im vierten Obergeschoß wird zu Beginn der Frage nach der Entstehung und der historischen Kontextualisierung des Nationalsozialismus nachgegangen. Ideologische Wurzeln im 19. Jahrhundert, Erster Weltkrieg, Weimarer Republik und Machtergreifung der NS werden dargestellt. Im dritten Obergeschoß geht es um die NS-Zeit in München zwischen 1933 und 1941/42 – bis der Krieg die Stadt erreichte. Die Kriegszeit von 1942 bis 1945 wird im zweiten Obergeschoß behandelt, und die spätere, häufig vermiedene Reflexion führt zum Thema „Hauptstadt der Bewegung”. Sie führt im ersten Obergeschoß bis zur Gegenwart.

Gründungsdirektor Winfried Nerdinger bezeichnet das Dokumentationszentrum als „Täterort”. Darum geht es um die Durchleuchtung der historischen und politischen Hintergründe, um psychologische Zusammenhänge, ebenso um die Biografien von Personen, die an der Machtentfaltung und den Verbrechen der Nationalsozialisten maßgeblich beteiligt waren, nicht aber um die Ausstellung historischer Objekte wie Uniformen, Waffen oder Abzeichen. Am Ende der Ausstellung werden aktuelle Bezüge hergestellt. Zudem gibt es Raum für Wechselausstellungen. Als Teil des wissenschaftlichen Unterbaus wird ein umfangreiches Archiv entwickelt, in dem die Besucher namentliche Nachforschungen betreiben können – man kann nach Personen suchen und Schicksale recherchieren.
 
Die Landschaftsarchitektur
Die Berliner Landschaftsarchitekten Weidinger gestalten den Außenraum. Die Einbettung des Gebäudewürfels in den Baumbestand wurde von den Wettbewerbsentscheidern positiv, als besonders zeichenhaft, bewertet. Das Ensemble von Terrasse und Neubau wird von Gleditschien umgeben. Sie wirken wie ein grüner Filter zum historischen Baubestand.