Tatjana Schneider: Modelle für eine andere Architekturpraxis

Redaktion Architektur & Bau Forum
18.12.2013

Tatjana Schneider lehrt Entwerfen, Geschichte und Theorie an der School of Architecture, University of Sheffield. Mit dem Forschungsprojekt „Spatial Agency", das sie zusammen mit Jeremy Till begründete, hat sie sich zur Aufgabe gemacht, den Architekturbegriff zu erweitern. Architektur wird hier als kritische und politische Disziplin propagiert, die sich nicht unbedingt immer in gebauten Projekten ausdrücken muss. Aufgrund dieser Arbeit wurde sie im Herbst 2013 zur Teilnahme am Symposium über „Social Design" an der Universität für angewandte Kunst eingeladen, wo sie über soziale Verantwortlichkeit und die Konsequenzen politischen Handelns thematisierte. Mit FORUM sprach sie nicht nur über den schwierigen Begriff des „Alternativen", sondern auch über politische Instrumente, Ethik sowie über traditionelle Architektur und deren Vermittlung. Manuela Hötzl im Gespräch mit Tatjana Schneider

Sie sind anlässlich des Symposiums zum Thema „Social Design” hier in Wien. Wie würden sie den Begriff definieren? Was ist „Social Design”?

„Social Design” ist für mich ein ganz schwieriger Begriff. Warum braucht man das Adjektiv „social”, um Design zu klassifizieren? Das hat etwas „von oben herab”, etwas Herablassendes. Ebenso wie der Begriff „Social Housing” sehr herablassend sein kann, und immer nur aus einer bestimmten Position der Macht kommt.
Ebenso andersherum – was ist Anti-Social-Design? Kann Design überhaupt nicht sozial sein? Ich frage mich: Kann Design außerhalb des Kontexts des Sozialen überhaupt fungieren?

Advertorial

Der deutsche Architekt und Forscher Friedrich van Borries fragt mit seinem Projekt RLF nach dem „richtigen Leben im falschen”. Sie haben mit „Spatial Agency” über Jahre viele Büros analysiert. Wie ist es als Architekt überhaupt möglich, ethisch und moralisch zu agieren?

Das kommt natürlich vor allem auf die Auftraggeber an. Bei unserem Projekt „Spatial Agency” habe ich die Erfahrungen gemacht, dass es immer wieder Nischen gibt, die andere Dinge ermöglichen. Es gibt ganz viele Projekte, die das herkömmliche Auftraggeber/Auftragnehmer-Verhältnis anders interpretieren und auch ökonomisch anders funktionieren. Nicht alle laufen reibungslos ab, aber es gibt sie auf jeden Fall. Letztendlich geht es darum, die Design- oder Architekturpraxis anders zu besetzen. Mit „Spatial Agency” versuchen wir diesen etwas schwerfälligen ethischen und moralischen Anspruch mit Design zu verbinden.
 

Was ist „Spatial Agency”? Wie ist das Projekt entstanden?

Begonnen hat es für mich persönlich schon in den Neunzigerjahren, als das Internet noch etwas exotisch war. Es war damals relativ schwierig, Gruppen zu finden, die anders arbeiten. Ich hatte in Deutschland studiert – die Basis war der Funktionalismus und die Nachkriegsmoderne; die Bibel war der „Neufert”. Das ist in vielen Studiengängen wahrscheinlich immer noch so. Ich hatte keine große Motivation, Architektur so zu praktizieren und ging zum Masterstudium nach Glasgow. Der Unterricht war politisch besetzt. Danach habe ich die Architekturpraxis anders verstanden. Da gab es keinen Weg zurück, wenn man einmal angefangen hat, die Produktion von Raum zu verstehen – oder verstehen zu lernen. Und auch zu hinterfragen. Warum sind manche Personen ausgeschlossen, warum kümmert man sich als Architekt nicht darum, wie ein Gebäude benutzt wird? Es gab viele „Warums”. Aus dieser „Verwunderung” hat sich die Suche nach einer alternativen Praxis entwickelt.
 

2011 ist das Buch zu „Spatial Agency” erschienen. Am Anfang widmen Sie sich auch dort sehr ausführlich der Definition dieses Begriffs. Ist das „Label” wichtig?

Wir haben anfangs den Begriff „alternative architectural praxis” benutzt, um Projekte und Gruppen zu beschreiben, die Architektur politisch begreifen. Dann hat sich aber immer mehr die Frage gestellt, was denn dieses Andere wirklich ist, was alternativ wirklich bedeutet. Alternativ in Bezug worauf? Wir haben gemerkt, dass wir einen Begriff besetzen wollen, der nicht vom Standpunkt der Opposition aus beginnt – und der nicht nur das klassische Architekturverständnis bedient (Architektur = Gebäude), sondern all die Dinge und Tätigkeiten, die zum Gebäude führen – und dann wieder davon weg.
 

„Agency”, im Sinne von Vermittlung oder Wirkung?

Agency ist ein komplexer Begriff, der nur schwer ins Deutsche zu übersetzen ist. Weder Vermittlung, noch Wirkung werden dem Begriff, wie wir ihn in „Spatial Agency” benutzen, gerecht. Spatial Agency beschreibt Architektur als politische und kritische Disziplin, um die Normen des Berufsstandes in Frage zu stellen. Agency zehrt vom Zusammenwirken von Intuition und Reflexion, ist eine transformative Kombination aus Praxis und Diskurs.
 

Die Sammlung der Projekte zeigt auch insgesamt einen neuen „Lebensentwurf” von Architektur und Bauen. Eine Inspiration für weitere Büros, so zu agieren, so agieren zu wollen und zu können? Und auch die Auftraggeber dafür zu akquirieren?

Letztendlich bin ich Optimist und daher davon überzeugt. Also: Ja, man kann diese Projekte und Auftraggeber finden, man kann sie sich suchen und natürlich auch selbst ein „alternativer” Auftraggeber werden oder „alternative” Projekte initiieren. Es gibt diese „Spaces of Hope”, wie sie David Harvey beschreibt. Andere Projekte und das Andere sind möglich. Und natürlich sind sie auch Hoffnungsträger dieser anderen Welt.
 

Zum Begriff der Ethik: Wie kann man „gute” Architektur überhaupt herausfiltern?

Das ist natürlich schwierig. Ganz allgemein formuliert, muss man allerdings sagen, dass jeder zu Fairness beitragen kann. Für wen baut man und warum? Woher kommt das Geld? Wie wird es ausgegeben und dann verteilt? Es kann zum Beispiel einfach nicht sein, dass Arbeiter nicht angemessen bezahlt werden, dass sie nicht richtig versichert sind gerade im Baubetrieb hat das eine lange Tradition. Wir müssen auch stärker darüber nachdenken, woher Baustoffe kommen und wie diese eingesetzt werden. Und uns fehlt ebenso noch ein solides Verständnis, was mit Gebäuden passiert, wenn diese fertiggestellt und der Schlüssel übergeben ist. All diese Fragen zu konkretisieren, wäre für mich der erste Schritt für Ethik im Bauen.
 

Wenn man sich etwas wünschen darf, nach all dieser Erfahrung und weil Sie ja auch trotzdem aus der Praxis kommen, was wären die Empfehlungen an die Politik? Was kann die Politik im Baubereich Ihrer Meinung nach initiieren?

Nötig ist, glaube ich, mehr Ambition, ein klareres Verständnis über Prozesse und Konsequenzen von Bauprozessen und Gebäuden. Das muss man auch politisch festlegen. Vorschlagen würde ich so etwas Ähnliches wie ein Fairtrade-Siegel. Oder etwas das noch konsequenter Prozesse offenlegt, Regeln festlegt und transparent für die Öffentlichkeit macht.
 

Also über den Lebenszyklus eines Gebäudes hinaus müssten die Spielregeln neu definiert werden?

Ja, noch viel weiter als darüber hinaus. Aber dann stellt sich die Frage: von wem? Wer untersucht, ob Gebäude wirklich so funktionieren, wie einmal angenommen wurde? Wer hat ein Interesse daran? In England erfolgen diese Studien bisher nur über Einzelinitiativen und sind häufig durch Forschungsgelder finanziert. Ich glaube, es müsste sehr viel stärker ein Teil des gesamten Architektenpakets sein.

Mir fällt auf, dass Partizipation kaum vorkommt, obwohl viele Projekte in den Siebzigerjahren angesiedelt sind – da sozusagen geboren wurden. Partizipation ist als Begriff genauso schwierig wie „Social Design”. Wir müssten also erstmal kurz festlegen, was wir damit meinen. Häufig, und deswegen gibt es eben diesen „spatial agency”-Begriff, ist Partizipation zweischneidig, weil sich Partizipation oft auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert. „Spatial agency” beschreibt größere Zusammenhänge. Eine Art ethische sozial-räumliche Grundhaltung.
 

Also eine Professionalität und Entscheidungskraft?

Ja, natürlich. In dieser Hinsicht ist die Studienrichtung „Social Design” an der Universität für angewandte Kunst schon die richtige Richtung, um komplexe Fragestellungen in unserer gebauten Umwelt zu begreifen. Wir brauchen definitiv andere Vorgehensweisen, um Probleme zu begreifen. Diese anderen Vorgehensweisen können aber nicht aufgrund persönlicher oder ausschließlich ökonomischer Bedürfnisse entschieden werden, sondern vor allem aus moralisch-ethischen Paradigmen heraus.
 

Wie sehen sie den geschichtlichen Bezug der Gruppen untereinander, da ja auch Coop Himmel(b)lau oder Haus-Rucker-Co vorkommen. Gibt es eine Art Wissenstransfer untereinander, kulturell oder zeitlich?

Unsere Arbeit befasst sich nicht so sehr mit dem Wissenstransfer, der unter Umständen tatsächlich stattgefunden hat. Auch nicht damit, wie oder ob zeitgleiche oder zeitlich versetzte Gruppen voneinander gewusst haben oder voneinander wissen. Für uns war es wichtig, bestimmte historische und kulturelle Bezüge zu schaffen. Diese Zusammenhänge sind auf der Webseite als Netwerkdiagramme dargestellt. Es war unsere Intention, darauf hinzuweisen, dass es – ob intellektuell oder praktisch – Parallelen oder Verbindungen zwischen Projekten gibt, die in den Sechziger- oder Siebzigerjahren stattgefunden haben, und Projekten, die in den letzten 10 Jahren durchgeführt wurden. Manchmal kann man diese Parallelen historisch auch noch weiter zurück verfolgen. Stadtentwicklung in den Zwanzigerjahren war häufig fortschrittlicher als heute – 100 Jahre später.
 

Und was lernt man aus der Forschung für die eigene Arbeiten und die Praxis?

Dass es – entgegen dem, was häufig noch in der Lehre und in professionellen Magazinen vermittelt wird – viele Gruppen gibt, die sich kritisch und politisch mit der gebauten Umwelt auseinandersetzen. Wahrscheinlich muss man auch neue Strukturen finden, die sich mit Raum neu beschäftigen – also nicht nur mit dem Objekt oder Subjekt. Ja. Einerseits ist es wichtig, neue Strukturen zu finden. ­Andererseits muss man Modelle und Regelwerke, die Spatial Agency ­möglich machen und schon existieren, stärken.

Geht es darum, die Ziele anders zu definieren. Wie zum Beispiel „Ärzte ohne Grenzen”?

„Ärtze ohne Grenzen”, oder eher das Äquivalent „Architects without Borders” finde ich nicht das beste Beispiel. Aber, klar, geht es darum, Ziele anders zu definieren. Ich habe das ohnehin schon erwähnt: Spatial Agency stellt die Grundparameter unseres traditionellen Architekturverständnisses in Frage. In Spatial Agency gibt es keinen Platz für althergebrachtes Expertentum oder imperialistische Vorgehensweisen nach dem Motto: Ich weiß mehr als du. Ich weiß, wie es geht. Wir kommen zu euch – und das mögen genauso irgendwelche Vororte von London, Wien, Berlin oder Saõ Paulo, Jakarta und Mumbai sein – und zeigen euch, wie man Projekte entwickelt. Spatial Agency schätzt situierte und lokalisierte Beziehungen und Wissen. Es geht nicht um einen Import-Export-Deal von Expertise, sondern um gemeinsames Lernen und entwickeln von Fragestellungen.

Ist dann der Gewinner des Goldenen Löwen bei der Biennale in Venedig mit dem „Urban Think Tank” von Justin McGuirk ein Negativ-Beispiel? Schließlich präsentierte er dort ein Restaurant, sagen wir mal im „Favela”-Stil.

Ja, diese grobe romantisierende Vereinfachung verstehe ich nicht. Mir ist nicht klar, warum das so inszeniert werden muss und was man dabei wirklich lernt? Das ist ein bisschen wie im Zoo. Findet aber in der Architekturszene statt.
 

Die Grenzen sind manchmal allerdings fließend. Was ist dokumentarisch und was wertet oder bewertet. Kann man das immer unterscheiden?

Für mich geht es darum, sich wieder mehr Zeit zu lassen. Unsere Welt ist so schnell geworden, und man fährt mal schnell nach Mexiko oder Brasilien und macht ein Projekt für eine Woche oder für zwei und glaubt danach, komplexe Sachen zu verstehen. Experten werden eingeflogen, um Systeme auf den Kopf zu stellen. Ich glaube, man muss auch Stimmen wieder stärker stehen lassen und akzeptieren, dass man manchmal, in einem bestimmten Feld, einfach nichts zu sagen hat und nur lernen kann – als Gast.

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