Architektur

Bau aufs Land

architektur in progress
27.03.2019

 
Viele ländliche Gemeinden haben in den vergangenen Jahrzehnten Infrastruktur verloren und ihre Ortskerne vernachlässigt. Die Folge sind Abwanderung und Pessimismus bei den verbliebenen Bewohner*innen. Von Sonja Bettel
Die Gemeinde Fließ in Tirol hat mit dem neuen Gemeindezentrum samt Ordination, Tourismusbüro, Post, Supermarkt, Jugendzentrum und Wohnungen den Ortskern und die Bürgerbeteiligung gestärkt. Fließ hat 2016 den LandLuft Baukultur­gemeinde-Preis und den Europäischen Dorferneuerungspreis erhalten.
Die Gemeinde Fließ in Tirol hat mit dem neuen Gemeindezentrum samt Ordination, Tourismusbüro, Post, Supermarkt, Jugendzentrum und Wohnungen den Ortskern und die Bürgerbeteiligung gestärkt. Fließ hat 2016 den LandLuft Baukultur­gemeinde-Preis und den Europäischen Dorferneuerungspreis erhalten.

Anfang März 2019 streifen zwölf Studierende des Masterstudiengangs Architektur der Universität Liechtenstein durch die Vorarlberger Gemeinde Übersaxen. Übersaxen liegt im Bezirk Feldkirch und zählt 629 Einwohner. Die Studierenden schauen in die Landschaft und in die Häuser, besuchen die Volksschule und Betriebe, sprechen mit Alten und Jungen. Die Gemeinde hat sie eingeladen, damit sie Entwicklungspotentiale aufzeigen. "Bei Studenten kommen oft ganz spinnige Sachen heraus, aber vielleicht ist ein kleiner Aspekt davon realisierbar", hofft Rainer Duelli, der seit 28 Jahren Bürgermeister von Übersaxen ist und meint, dass man nach so vielen Jahren einen Tunnelblick bekommen kann. Die Studierenden sollen deshalb Visionen entwickeln, bevor die Gemeinde nach 20 Jahren ein neues räumliches Entwicklungskonzept macht.

Schauen, was da ist. Das ist für Martin Mackowitz, Dozent an der Architektur der Universität Liechtenstein, stets der erste Akt des Bauens auf dem Land. 

Auf die Landschaft reagieren 
"Man muss zuhören und zuschauen, auf die Topografie, die Vegetation, die Witterungen, die Landwirtschaft, die Flure, das Dorfwesen, die Abläufe im Dorf", erklärt der junge Vorarlberger Architekt, der mit Projekten und Interventionen wie dem Feldhotel in Lustenau, dem Kulturraum Blumenegg oder der Ofenwerkstatt Müller in Ludesch aufgefallen ist. Wichtig ist ihm, dass das Bauen auf die Landschaft reagiert, aber auch auf die Menschen und ihr Leben in der Landschaft. „Man muss das Wesen eines Ortes begreifen und sich dann mit Modellen, Gesprächen und Zeichnungen langsam daran annähern, was man weitertragen und was man verändern möchte“, sagt er. Mackowitz plädiert dabei auch für 1:1-Modelle im Sinne des Einfühlens in einen Raum: "Etwa Kaffee zu trinken an einem Platz, für den man ein Café plant, oder für den Bau eines Einfamilienhauses Möbel auf die Baustelle zu stellen und in die Landschaft zu schauen."

Einiges richtig gemacht
In Übersaxen werden Martin Mackowitz und seine Masterstudenten viele interessante Dinge finden können, denn die Gemeinde hat schon einiges richtig gemacht. Vor 20 Jahren, als neue Straßenbenennungen erfolgten, wurde der in Übersaxen aufgewachsene Künstler Herbert Fritsch damit betraut, neue Straßenschilder und Hausnummern zu gestalten. Sie tragen die neuen Namen und Nummern, aber auch die überlieferten Hauszeichen. Vor 15 Jahren wurde die bestehende Schule aus den 1950er Jahren mit Um- und Zubau zu einem Dorfzentrum für Gemeindeamt, Arzt­ordination, Musikverein, Kindergarten, Volksschule, Turnhalle/Veranstaltungssaal, Bibliothek und Café umgestaltet und damit auch ein neuer Dorfplatz gebildet. Dafür wurde ein geladener Wettbewerb unter Einbindung von Bürgerinte­ressen ausgerichtet, den Architekt Matthias Hein gewann. Für den „respektvollen Weiterbau am Bestand und die entschiedene Suche nach neuen Qualitäten“ erhielt das Dorfzentrum 2005 den Vorarlberger Hypo-Bauherrenpreis. 

Leerstand und Abwanderung
Beispiele wie jene aus Übersaxen sind sehr wertvoll, besonders in Zeiten der Depression in vielen ländlichen Gemeinden. Seit Jahren und Jahrzehnten werden Dörfer im wahrsten Sinne ausgehöhlt. Bauernhöfe geben auf, Gendarmerieposten und Postämter, Greißler und Gasthäuser werden zugesperrt, Handwerksbetriebe finden keine Nachfolger. Mit den Arbeitsplätzen und der Infrastruktur verschwinden auch die Menschen aus den Dörfern, vor allem gut ausgebildete junge Frauen. Viele Gemeinden machen dann noch den Fehler, am Ortsrand Einkaufszentren für die ewig gleichen Ketten bauen zu lassen, die man nur mit dem Auto erreicht und die keine Qualität für den öffentlichen Raum haben. Oder es werden Felder in Siedlungsgebiete umgewidmet, während im Ortskern Häuser leer stehen und verfallen und der Charakter des Ortes mehr und mehr verloren geht. Die Hoffnungslosigkeit, die bei denen entsteht, die nicht weggehen können oder wollen, wirkt sich auch auf die politische Stimmung aus. Der Sozialforscher Günther Ogris vom SORA-Institut stellte im Zuge der Bundespräsidentenwahl 2016 fest, dass Pessimisten, die der Meinung sind, dass sich im Land alles zum Schlechteren entwickelt, eher Norbert Hofer von der FPÖ wählten, Optimisten eher Alexander Van der Bellen von den Grünen.

Seit den 1950er Jahren lag die Hoffnung auf Wiederaufbau und Wirtschaftswachstum. "Uns und unseren Kindern wird es einmal besser gehen", war der Großteil der Österreicher überzeugt. Seit der Weltwirtschaftskrise 2007/2008 sei das Vertrauen in Politik und Wirtschaftsgeschehen aber nicht mehr vorhanden, so Ogris. Besondere Bedeutung haben deshalb Initiativen von und in ländlichen Gemeinden, die den Bürgern Hoffnung geben, die zeigen, dass man selbst etwas verändern kann.

Selbst etwas verändern
Die Gemeinde Hinterstoder in Oberösterreich zum Beispiel ist seit 1986 bekannt als Austragungsort des Alpinen Skiweltcups. Doch das reicht nicht, um der Abwanderung der Jungen aus dem Dorf entgegenzuwirken. 1991 wurde Helmut Wallner Bürgermeister und rief die Bewohner*innen zur gemeinsamen Erstellung eines Ortsentwicklungskonzeptes "Hinterstoder 2000" auf. In der Folge wurden die Dorfstraße und die angrenzenden Plätze erneuert und entschleunigt, das Museum "Alpineum" und die "Hösshalle" als erste moderne Architektur gebaut und ein Corporate Design für die Beschilderung der Wanderwege und das Tourismusbüro eingeführt. Das Alpineum wurde für den Europäischen Museumspreis nominiert, 2009 erhielt Hinterstoder den LandLuft Baukulturgemeinde-Preis und 2018 den zweiten Platz im Europäischen Dorferneuerungspreis. Seit dem Bevölkerungstiefstand im Jahr 2015 mit 901 Einwohnern geht es wieder langsam bergauf. Jüngere Hinterstoderer, die in die weite Welt gezogen waren, kommen zurück, um der Gastronomie und dem Tourismus zeitgemäße Impulse zu geben. 

Ohne Patentrezepte
Dabei geht es nicht darum, vermeintliche Patentrezepte von anderen Gemeinden oder Moden aus anderen Zusammenhängen zu übernehmen. Gion A. Caminada, Architekturprofessor an der ETH Zürich und Architekt im kleinen Graubündener Dorf Vrin im Val Lumnezia, betont immer wieder, dass beim lokalen Bauen die Differenz gestärkt werden müsse. Das bedeutet: Bauen mit lokalen Materialien, Neuinterpretation der örtlichen Bautradition, angepasst an die Landschaft und die Lebenswelt des Ortes. Caminada hat damit seinem aussterbenden Heimatort Vrin neue Lebensgeister eingehaucht und ihn zu einem Wallfahrtsort für Architekturstudierende und Architekturinteressierte gemacht.

Der aus Südtirol stammende und in Mailand arbeitende Architekt Peter Pichler hat an der Angewandten in Wien studiert, könnte aber ein Schüler Gion Caminadas sein: Gefragt, wie er an eine Bauaufgabe am Land herangeht, sagt er: "Wir fangen an mit Research der vernakulären Architektur in einem Ort und schauen, was man dort zeitgenössisch interpretieren kann." Ein schönes Beispiel dafür ist die Berg­hütte Oberholz in Deutschnofen, Südtirol, für die Pichler in Zusammenarbeit mit Pavol Mikolajcak 2015 den Architektur-Wettbewerb gewonnen hat. "Es war klar, dass wir mit Holz bauen, weil es das örtliche Material ist", erläutert Pichler, "und wir haben die traditionelle Südtiroler Stube als offenen und trotzdem intimen Raum neu interpretiert." In Südtirol gebe es derzeit im Tourismus eine Art Wettbewerb, wer mehr Saunen und mehr Pools baue, aber er glaube, dass es bald zurückgehen werde zu einfacheren Dingen, die Beziehung Mensch–Natur werde wichtiger. In der Hütte Oberholz kann man diese bereits vertiefen: Das Gebäude besteht aus drei versetzt angeordneten Häusern in klassischer Giebelform mit Glasfronten für den ungestörten Bergblick.

Bautraditionen neu interpretieren
Sich an traditionellen ländlichen Bau- und Lebensweisen zu orientieren, ist auch deshalb zukunftsweisend, weil sparsamer Umgang mit Ressourcen, wie er einst üblich und notwendig war, wieder dringend gefragt ist. Das sind einerseits Materialien und Energie sowie der Bestand, der um- oder neu genutzt werden sollte, andererseits der Boden, der in Österreich rasend schnell verloren geht. Täglich werden laut Umweltbundesamt durchschnittlich 11,8 Hektar versiegelt, das liege deutlich über dem Ziel der Strategie für nachhaltige Entwicklung von 2,5 Hektar pro Tag. Weil die Siedlungsentwicklung auf der "grünen Wiese" erfolgt, veröden die Ortskerne und steigen die Aufwendungen der Gemeinden für die Infrastruktur. Dadurch länger werdende Wege sorgen für mehr Treibhausgasemissionen und damit für eine Beschleunigung des Klimawandels. Obwohl dieser Umstand seit Langem bekannt ist, geschieht raumplanerisch nicht viel. 

Aus dem Geschehenen lernen
Die Gemeinde Velden am Wörthersee hat verstanden, dass Boden eine wertvolle und endliche Ressource ist. Der Tourismus ist für Velden ein wichtiger Wirtschaftszweig, er ist in den vergangenen Jahrzehnten aber auch zu einer Last geworden: Die Immobilienpreise steigen, die Investor*innen rangeln um die besten Plätze am See, und die Zahl der Zweitwohnsitze ist auf ein ungesundes Maß angewachsen. Architektur und Raumplanung seien lange Zeit grob vernachlässigt worden, sagt Ferdinand Vouk, seit 2001 Veldens Bürgermeister. Dabei hatte Velden einst eine he­rausragende Baukultur, die sogenannte "Wörthersee-Architektur", die im 19. Jahrhundert mit der Wandlung des kleinen Bauern- und Fischerdorfes zum Kurort einherging. Die Gemeinde hat für ihre Bemühungen für die Erhaltung und Neugestaltung dieses Erbes im Jänner 2016 den LandLuft Baukulturgemeinde-Preis erhalten. Im November 2016 hat sie eine auf zwei Jahre befristete Bausperre für Grundstücke im erweiterten Uferbereich des Wörthersees verordnet, die nun bis Herbst 2019 verlängert wurde. Damit soll sichergestellt werden, dass die verbliebenen Grünräume und der Zugang zum See für die Bevölkerung bestehen bleiben. Ein neuer Bebauungsplan, der derzeit in Ausarbeitung ist, soll zukünftig eine geordnetere bauliche Entwicklung und den sparsamen Umgang mit Boden garantieren.

Solche Beispiele an die Öffentlichkeit zu holen und zu zeigen, wie Baukultur im ländlichen Raum entstehen und wirken kann, ist Ziel und Erfolg des Baukulturgemeinde-Preises, den der Verein LandLuft im Jahr 2009 erstmals ausgeschrieben hat. 

Baukultur im ländlichen Raum
LandLuft wurde 1999 im Zuge einer Ausstellung über Bauen am Land an der Technischen Universität Wien aus einem Gefühl des Mangels heraus gegründet, nämlich jenem der fehlenden akademischen Vermittlung des ländlichen Bauens. Erich Raith, damals Assistent, heute Professor für Städtebau an der TU Wien, hoffte damals, dass ein eigener Fachbereich für ländliches Bauen ins Leben gerufen werden könnte, doch das ist bis heute nicht gelungen. Er hat deshalb LandLuft eingeladen, das 20-jährige Vereinsjubiläum mit einer gemeinsamen "LandLuft Universität" an der TU zu begehen. Von 25. März bis 4. April wurde intensiv über das Bauen am Land vorgetragen, diskutiert, entwickelt und gefeiert – von Professor*innen und Studierenden, Architekt*innen und Raumplaner*innen und Baukultur­pflegenden aus Gemeinden und Institutionen.

"Für Studierende ist es immer extrem wertvoll, wenn man gemeinsam an realen Projekten arbeitet", weiß Elisabeth Leitner aus Erfahrung. Sie war Partnerin beim Architekturbüro nonconform und leitet seit 2016 den Studiengang Architektur der Fachhochschule Kärnten in Spittal. Kürzlich wurde sie zur neuen Obfrau des Vereins LandLuft gewählt. Viele ihrer Studenten kommen vom Land und wollen nach dem Studium auch dort leben und arbeiten. Der Vorteil des Planens im lokalen Kontext sei der direkte Kontakt zu den Beteiligten aus der Verwaltung und der Bauausführung, andererseits wird die Rolle des Architekten greifbarer für die Bevölkerung. Wie man deren Bedürfnisse berücksichtigt und Architektur und Baukultur gemeinsam entwickelt, sollte deshalb schon früh im realen Raum gelernt werden. Roland ­Gruber, Architekt aus Kärnten und einer der Gründer von LandLuft, hat vorgeschlagen, dass Architekturstudierende statt eines Auslandssemesters ein "auf dem Land"-Semester machen sollten.

Rainer Duelli, Bürgermeister von Übersaxen in Vorarlberg, würde dem wohl zustimmen. Er überlegt bereits, ob das aktuelle Semesterprojekt der Universität Liechtenstein eine Fortsetzung haben könnte.


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