„nanotourism“- die Krise als Chance

Architektur
28.09.2020

Braucht es eine Corona-Pandemie, um uns vor ­Augen zu führen, welch absurde Auswüchse der Massentourismus angenommen hat?
Das temporäre Land-Art-Projekt „Don’t Panic“ reagiert auf die allgegenwärtigen Satellitenaufnahmen, die über Google Maps und andere Programme angeboten werden. In Zusammenarbeit mit den Bewohnern der Ortschaft wurde die Nachricht in großen Lettern mit landwirtschaflticher Folie auf einen Hügel geschrieben.
Das temporäre Land-Art-Projekt „Don’t Panic“ reagiert auf die allgegenwärtigen Satellitenaufnahmen, die über Google Maps und andere Programme angeboten werden. In Zusammenarbeit mit den Bewohnern der Ortschaft wurde die Nachricht in großen Lettern mit landwirtschaflticher Folie auf einen Hügel geschrieben.

How will we live together?“, fragte sich Haschim Sakis und machte dies zum Leitmotiv der 17. Internationalen Architektur ­Biennale in Venedig. Und spätestens seit Ausbruch von Covid-19 sind Milliarden von Menschen mit dieser Frage konfrontiert. Homeoffice, Homeschooling, Social Distancing, Shutdown – und „Wo verbringe ich meinen Urlaub?“. Wir alle wurden gezwungen, radikal über das Miteinander nachzudenken, alte Gewohnheiten aufzugeben, neue Verhaltensweisen zu lernen und neue Wege zu gehen. 

Die Ausbeutung der Erdölvorkommen hat weltweit nicht nur eine drastische Verschiebung in der Baukultur und im Umgang mit Ressourcen, sondern insbesondere im Mobilitätsverhalten mit sich gebracht. Reisen wurde ab den 1960er Jahren für breite Bevölkerungsschichten erschwinglicher. Die Reiseziele rückten immer weiter vom Ort des Lebensmittelpunkts weg und konnten nunmehr per Auto oder Flugzeug leichter erreicht werden. Das wiederum ging auf Kosten der Umwelt. Dafür verringerte sich mit der Zeit die Urlaubsdauer zusehends, in der alles konsumiert werden muss, was die Urlaubsdestination zu bieten hat. Der Kontakt zur ansässigen Bevölkerung bleibt zumeist aus, Postkartenmotive werden konsumiert, Details erst später beim Posten der Handy­fotos entdeckt.

Das Potenzial der Generationen 

Die negativen Auswirkungen des Massentourismus lassen sich in Destinationen wie Venedig deutlich nachvollziehen und gehen meist zu Lasten der Lebensqualität der ansässigen Bevölkerung. Erst die, durch die Corona-Pandemie 2020 erzwungenen, Reisebeschränkungen haben gezeigt, welches Potenzial in der dadurch bewirkten Regeneration liegt. Glasklare Kanäle in der Lagunenstadt, Delphine im Hafen von Triest. Auch in Österreich waren die Auswirkungen spürbar. In der Altstadt von Salzburg etwa etablierte sich für die Bewohner wieder etwas Lebensqualität, abseits vom Gedränge. Parallel zu den massengeplagten Hotspots kämpfen immer mehr ländliche Regionen mit Leerstand und Verarmung der Infrastruktur. Die zunehmende Urbanisierung entvölkert und verödet ganze Landstriche. Ehemalige Tourismusregionen überaltern und dörren aus. Und Ansprüche sowie Kommunikationsverhalten vieler Erholungssuchender haben sich gravierend verändert.

Zukunftsorientierte Tourismusregionen suchen daher nach neuen Konzepten. Ist man Gast oder Tourist? Lebt man in globalisierten Parallel­universen, oder wohnt man auf Zeit als Teil eines Orts? Die Suche nach Zurückgezogenheit, nach Natur und authentischen Orten stellt einen viel gesuchten Kontrast zum hektischen, von Informationstechnologien geprägten ­Arbeitsalltag der Multioptionsgesellschaft dar. Die „Sommerfrische“ feiert eine Renaissance – in Corona-Zeiten umso mehr. Ob als „Time Out“ für stressgeplagte Burn-Out-Kandidaten, ob für konzentriertes, kreatives Schaffen am Rückzugsort – ohne Ablenkung durch Überfluss. Kraft tanken durch die Natur, kulturelle Impulse, aber auch durch den Kontakt mit der ansässigen Bevölkerung. Letzteres steht ganz oben auf der Wunschliste der Millennials. Die gegenseitige Inspiration kann für Gast wie Gastgeber gleichermaßen Bedeutung haben und fruchtbringende Prozesse in Gang setzen. 

Lokale Werte - regionale Eigenschaften 

Das Top-Down-Geschäftsmodell der internationalen Hotelkonzerne mit uniformer Architektur funktioniert ohne Rücksicht auf Ort, Landschaft oder lokalspezifische wirtschaftliche und soziale Bedürfnisse. Damit ignoriert bzw. zerstört dieses Modell lokale Werte und regionale Eigenschaften, als wesentlichen Grund für eine Reise.

Seit 2014 widmet sich die AA nanotourism Visiting School der Architectural Association School of Architecture in London unter der inhaltlichen Leitung von Aljoša Dekleva der Erforschung dieses Themas sowie der Entwicklung entsprechend lokal-orientierter, partizipativer Strategien. Der Wissensaustausch interdisziplinärer Experten findet an unterschiedlichen Orten, oft im Rahmen namhafter Architektur- und Designfestivals statt, wie der Olso Architecture Triennale 2019 oder der Vienna Design Week. Das Visiting School-Programm ist ein Netzwerk von über 20 Visiting Schools, die an unterschiedlichen Orten weltweit ihre architektonischen Forschungs­agenden durch disziplinübergreifende Projekte implementieren.

Designing Everyday Life

Der Begriff „nanotourism“ wurde 2014 von ­Aljoša Dekleva und Tina Gregorič [siehe Interview Seite 4–5] im Rahmen ihrer Mentorship der „BIO 50 – Biennial of Design“ in Ljubljana als neuer Begriff und Forschungsthema definiert. In Reaktion auf den lokalen (slowenischen) wie globalen Massentourismus und dessen negativer sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Effekte sollten neue, alternative Arten von Tourismus erforscht und neue, standortspezifische Konzepte erarbeitet werden. Biennale-Kurator Jan Boelen transformierte unter dem Motto „Desi­gning Everyday Life“ eine Ausstellung fertiger Produkte zu einer Schau möglicher Prozesse. Daraus entstanden internationale Kollaborationsnetzwerke. 

Im gängigen Tourismusmarketing finden wir  green tourism, sustainable tourism, volunteer tourism, agro tourism, dark tourism, slow tourism u. s. w.. Nanotourism ist jdeoch ein Überbegriff, der all dies beinhalten kann. Als konstruierter Begriff beschreibt er eine kreative Kritik der negativen Auswirkungen von Massentourismus in Bezug auf Umwelt, soziale oder ökonomische Rahmenbedingungen. Er ist als ortsspezifische und partizipatorische „Bottom-up“-Alternative definiert. Durch die gemeinsame Generierung von Wissen und dessen Austausch kann nanotourism als Werkzeug zur Anregung gegenseitiger Interaktion zwischen Anbietern und Nutzern agieren und reicht so weit über den Bereich des Tourismus hinaus. Es geht um das Bemühen zur Verbesserung spezifischer, alltäglicher Umfelder und Strategien für das Öffnen neuer lokaler Aktionsweisen. Und „nano“ weist auch auf die Auseinandersetzung mit den unsichtbaren Aspekten von Orten, wie Ritualen, Ängsten, Kommunikationsarten, Werten und Erwartungen hin.

Die AA nanotourism Visiting School definiert sich als experimentelles „Research-Design-­Make“-Programm, das mittels „Case Studies“ weltweit implementiert wird und dadurch ein internationales und interdisziplinäres Forschungsnetzwerk etabliert, das einen Beitrag zur gesamtheitlichen Architekturausbildung leistet. Jedes Mitglied der Forschungsgruppen arbeitet in zwei „Loops“: Das Sammeln bestehender Referenzprojekte, die als Best-Practice evaluiert und deren spezifische Eigenschaften extrahiert werden und das Schaffen neuer nanotourism-Projekte vor Ort. Lokale Potenziale werden identifiziert und daraus neue „nanotouristische Erlebnisse“ entwickelt, die von der regionalen Wirtschaft genutzt werden können. 

Möglichkeiten und Rituale

Von Jahr zu Jahr wächst der Fundus an selbst ini­tiierten Projekten, die als Referenzen ein sich permanent erweiterndes Netzwerk erzeugen. Die erste „Case Study“ der nanotourism Visiting School startete 2014 in Slowenien im Cultural Centre of ­European Space Technologies in Vitanje. In den darauf folgenden Jahren wurden in Vitanje 13 unterschiedliche Projekte erarbeitet. Das Projekt „KSEVT Hotel“ ermöglichte den Besuchern nach dem Schließen des Museums um 18 Uhr, das Gebäude und Ausstellungsprogramm als Hotel zu nutzen. In einem von  der Decke hängenden und von der Raumfahrt inspirierten Anzug war es möglich, in der Luft schwebend zu schlafen. Durch das Erlebnis von „3D Sleeping“ wurde man als Gast aktiver Teil der KSEVT-Ausstellung, die das Thema Alltagskultur im Weltall thematisierte. Es folgte 2015 die „KSEVT ­Dining Experience“, ebenfalls in Vitanje, bei welcher den Besuchern einerseits in der „Food Odyssey“ ein schwereloses Menü angeboten wurde, dessen Gerichte mit lokalen Lieferanten und Köchen erarbeitet und zu einem schwerelosen Geschmacks­erlebnis inszeniert wurde. Andererseits entwickelte das Projektteam als Antwort auf die lokale Weinkultur und im Kontext zur Raumfahrt einen speziellen Anzug, der als „tragbares Trinkglas“ verwendet werden kann. Er ist mit verschiedenen Röhren unterschiedlicher Längen und Profile ausgestattet und fordert den Nutzer auf, abhängig davon, ob er Schaumwein, Weißwein oder Rotwein konsumieren möchte, sich zu bewegen, um in unterschiedlichen Positionen in einer performativen Art Wein zu trinken. 

„Don’t Panic“ (2016) reagiert auf die allgegenwärtigen Satellitenaufnahmen, die über ­Google Maps und andere Programme angeboten werden. Wie können diese Erkundungstools eines weltweiten Tourismus individuell beeinflusst werden? In Zusammenarbeit mit den Bewohnern von ­Vitanje wurde die Nachricht „Don’t Panic“ in großen Lettern mit landwirtschaftlicher Folie auf einen Hügel geschrieben und somit eine temporäre Land-Art-Installation erstellt, die man durch den Überflug mit Drohne und Flugzeug dokumentierte. Das Projekt ist eine Nachricht der lokalen Bevölkerung für das Weltall, die sich über die Satellitenbildkarten an uns alle richtet. 2017 folgte unter anderem das Projekt „Je Te Porte, Tu Me Portes“ in Frankreich, in dem die Bewohner von Ault, einem ehemaligen Tourismus­ort an der Atlantikküste Frankreichs, in enger Beziehung zu den steilen Klippen stehen, die den Ort prägen und durch deren sukzessiven Abbruch der Ort immer weiter in den Atlantik abstürzt. Es wurde eine Postkartenserie mit Fotos von Bewohnern entwickelt, die einen Spiegel in Händen halten, der die Klippen sichtbar macht. Auf den unterschiedlichen Postkarten tragen die Bewohner somit die Klippen, die gleichsam ihren Ort und damit ihr Leben tragen. Die Ini­tiative wurde von den Bewohnern und dem Tourismusbüro weitergeführt, und nun können auch Besucher von Ault ihre eigene Postkarte erzeugen und versenden. „Preserved in Salt“ ist das erste Überseeprojekt der nanotourism Visiting School, das 2018 in Hawaii im Kaka’ako Bezirk von ­Honolulu einen Prototyp für eine partizipative Salzproduktion entwickelte, um damit die Ortsgeschichte Bewohnern wie Besuchern näherzubringen und einen Beitrag zur lokalen Mikro-Ökonomie zu ­leisten. 

Im letzten Jahr wurde das Projekt ­„Alternative Moray“ in Peru, eines der meistbesuchten Inka-­Monumente der peruanischen Anden, entwickelt. Die historische Bedeutung und der archäologische Wert des Monuments wurden bisher kaum untersucht. Vielmehr wurden die Bewohner des Ortes durch die Errichtung eines staatlichen Tourismusparks de facto „enteignet“ und von der Nutzung ausgeschlossen. In Zusammenarbeit mit den umliegenden Communities entwickelte das Team verschiedene Rituale und Themenrouten um den Tourismuspark herum, die Besucher an partizipativen Aktionen teilnehmen lassen und so ein tieferes Verständnis und Wertschätzung für Ort, Geschichte und Bewohner ermöglichen und letzteren ein alternatives Einkommen eröffnen. 

2020 ist die AA nanotourism Visiting School in Wien zu Gast. Jakob Travnik, der Programmkoordinator der AA nanotourism Visiting School, der gemeinsam mit Amanda Spenger auch die Workshops in Wien organisiert, meint dazu: „nanotourism-Projekte entwickeln Möglichkeiten für neue Rituale, die in ein Umfeld von Sorgfalt und Wertschätzung gebettet sind. Es geht um den Respekt für die Menschen, die hier leben und ebenso gesamthaft für unseren Planeten. nanotourism hat eine kritische und verantwortungsvolle Haltung, un schafft erfinderische und spekulative Projekte.Viele der nanotourism-Projekte sind temporäre Interventionen, die neue Formen von Ritualen erproben. Für uns wäre es in Zukunft spannend, die Projekte und Rituale in anhaltenden Kooperationen weiter zu betreuen, um sie langfristig etablieren zu können.“ 

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