Raum für Geburt und Sinne: Ein ambitioniertes Raumexperiment

Bauzustand
02.07.2020

 
Die Geburt ausserhalb der Klinik: In seinem zwanzigsten Bestandsjahr widmet sich das Frauenmuseum Hittisau dem elementaren Thema der Geburt und schenkt sich im Zuge dessen ein architektonisches Experiment. Auszüge aus einem Bautagebuch der besonderen Art. von Lukas Vejnik
Raum für Geburt und Sinne in Hittisau, Bregenzerwald
Raum für Geburt und Sinne in Hittisau, Bregenzerwald

Die Frage, wo Neugeborene in Österreich heute das Licht der Welt erblicken, erübrigt sich eigentlich. Für die große Mehrheit entstehen die ersten Eindrücke von der Außenwelt im Krankenhaus. Im Durchschnitt werden hierzulande nur zwei von hundert Kindern nicht im Kreißsaal geboren. In Vorarlberg hat sich eine interdisziplinäre Gruppe zusammengefunden, um diese starke räumliche Gebundenheit zu hinterfragen. In unmittelbarer Nachbarschaft zum Ortszentrum von Hittisau, auf einer Wiese mit unverstelltem Ausblick auf die Hügellandschaft des Bregenzerwaldes, steht, als erstes Signalfeuer dieser Initiative, der „Raum für Geburt und Sinne“ kurz vor der Fertigstellung. Den Einfluss von Raum und Umgebung auf Geburt und Gesundheit erfahrbar zu machen, ist das Ziel des Entwurfs. Der archaisch anmutende Raumrohling aus Lehm und Holz ist Teil der Jahresausstellung „geburtskultur. vom gebären und geboren werden“ im Frauen­museum Hittisau. Neben der Präsentation kulturhistorischer Artefakte möchte die Schau einen kritischen Blick auf aktuelle Tendenzen auf dem Gebiet des Geburtswesens werfen. Bei der Auswahl der Objekte und Positionen geht es den Kuratorinnen Anka Dür, Stefania Pitscheider Soraperra und Brigitta Soraperra um die Synthese aus überliefertem Hebammenwissen und zeitgenössischen Geburts- und Reproduktionspraktiken; eingefasst von einem leichtfüßigen Ausstellungsdesign von Sabrina Summer. Der Gebärraum erweitert, als Satellit auf halbem Weg zwischen Friedhof und Frauenmuseum, die Ausstellung in den öffentlichen Dorfraum. 

Lehm, als Baustoff mit Zukunft

Warum Lehm? Der Baustoff bindet Schadstoffe, speichert Wärme, wirkt feuchtigkeitsregulierend und ist in der Regel ohne schweres Gerät herstellbar. Ein nachträgliches Bearbeiten von Installationen und Lüftungsauslässen gestaltet sich in Bauten aus Lehm ebenfalls unkompliziert. So können Planungsentscheidungen auf der Baustelle überdacht und leicht angepasst werden. Stammt das Rohmaterial aus einer Lehmgrube in der näheren Umgebung, dann fällt die Gesamtenergiebilanz besonders gut aus, da in diesem Fall verhältnismäßig wenig Energie aufgewendet werden muss, damit aus Erdschichten Wandscheiben werden. Obwohl die Vorteile im Hinblick auf Raum- und Weltklima auf der Hand liegen, hat es das organische Baumaterial unter den derzeitigen Rahmenbedingungen schwer. Damit ein Lehmbau entsteht, braucht es ein hohes Maß an Arbeitseinsatz sowie handwerkliches Können. Das kostet. „Die versteckte graue Energie klimabelastender Bauweisen wird derzeit dagegen nur unzureichend oder gar nicht verrechnet“, so die Architektin und Mitglied des Gestaltungsteams Anna Heringer. „Würde das Baumaterial Lehm in puncto Kostenwahrheit ehrlich betrachtet werden, wäre Lehm als Baustoff in Zukunft auch konkurrenzfähig“, merkt Martin Rauch an. Für Anka Dür, die sich bereits in ihrer Diplomarbeit an der Fakultät für Architektur der Universität Innsbruck mit dem Thema beschäftigte, sind es, neben den bereits genannten Eigenschaften, die haptischen und atmosphärischen Qualitäten, die Lehm zum idealen Material für den Gebärraumbau machen. Ihre Idee eines zeitgemäßen Geburtshauses in Krankenhausnähe wird ebenfalls in der Ausstellung gezeigt. Für die Geburt wurde laut Dür zwar Platz in der Medizin geschaffen, Zusammenhänge zwischen Raum, Atmosphäre und Geburt sind jedoch nur mäßig erforscht. Immaterielle und materielle Qualitäten wie Zeit, Licht, Wärme, Akustik und Oberflächenbeschaffenheit bestimmen den Geburtsverlauf jedoch wesentlich mit. Der Raum für Geburt und Sinne ist für die Architektin die räumliche Reaktion auf ein grundlegendes Bedürfnis. Das Objekt soll das Abtauchen in eine sinnliche Erfahrung erlauben – der Bau­stoff Lehm mit seinen materialspezifischen Eigenschaften wirkt regulierend auf das Nervensystem.

Ambitioniertes Raumexperiment

Mitgetragen wird das ambitionierte Raumexperiment von 500 Ziegel-Paten und -Patinnen  und dem Engagement der freiwilligen Helferinnen und Helfer vor Ort. „Ein wesentlicher Punkt, damit das Frauenmuseum als Bauherrin einsteigen konnte, war eine solide Basisfinanzierung“, so Museumsdirektorin Stefania Pitscheider Soraperra. Der benötigte Anteil wurde mit der Aktion problemlos erreicht, was auch als Hinweis darauf gelesen werden kann, dass das Museum sich auf eine breite Trägerschaft stützen kann und ein reeller Bedarf an alternativen Geburtsräumen besteht. Den Bauplatz stellte die Gemeinde zur Verfügung. In der sechzig Kilometer entfernten Schlinser Lehm-Ton-Erde Werkhalle, selbst ein werdendes State­ment aus Holz und Lehm mit geringstmöglichen Zuschlägen, wurden die insgesamt 3.500 strohbewehrten Bausteine gemeinsam mit dem Stampflehmspezialisten und Tonkünstler Martin Rauch auf einer Holzunterkonstruktion abfahrbereit in Form gebracht. Zwölf Tonnen wog der in zwei Teilen angelieferte Rohbau beim Transport. Zwei Fundamentstreifen übertragen die Lasten in den Boden. Sofort nach dem Zusammenbau in Hittisau wurde der Lehmkörper mit einem schützenden Federkleid aus Fichtenholzschindeln umhüllt. Unprätentiös, ohne Unterkonstruktion. Schlichte Schönheit, die im Bregenzerwald zum alltäglichen Fassadengewand gehört, neu interpretiert. Die leichte Rötung geht auf eine natürliche Pigmentierung zurück. Vor dem Eingang entsteht ein von Heilpflanzen umschlossener Sitzkreis mit einer Feuerschale im Zentrum. Innen ist auf der leicht erhöhten Gebärplattform bereits die erste von insgesamt drei Kalkputzschichten aufgetragen. Aus Hygienegründen erhält die Oberfläche abschließend ein glattes Seifenfinish. Der Gebärraum kommt ohne Möblierung aus. Die einzigen zur Verfügung stehenden Hilfsmittel sind zwei Einbuchtungen in der Wand zum Aufstützen, ein von der Decke baumelndes Tuch sowie die Schwerkraft als elementare Gebärhelferin. Für die Abend- und Nachtstunden gibt es N ischen für Teelichter. Natürliches Licht fällt über eine kreisförmige Öffnung über dem Eingang ein, die abschließend verglast und ebenfalls mit Lehm fixiert wird. 

Der Einfluss des Raumes

Die Pionierinnen von Hittisau sind mit ihrer Ansicht, dass Bewegungsfreiheit für den Geburtsvorgang förderlich ist, nicht allein. Auch das Österreichische Hebammengremium beschreibt die aufrechte Position als mögliche Variante und selbstbestimmtes Erlebnis. Dass Stehen, Gehen, Sitzen, Knien oder eine hängende Haltung unterstützend auf den Geburtsvorgang wirken, ist Anka Dür zufolge längst kein Geheimnis mehr. Inwiefern sich die räumliche Umgebung auf den Geburtsverlauf auswirkt, wird derzeit in einschlägigen Studien untersucht. Unabhängig davon, ob die Geburt im Kreißsaal, im Wohnzimmer oder in kommunalen Gebärräumen stattfindet, ist die Unterstützung durch eine erfahrene Hebamme essenziell. Genau hier ist eine Hürde für Gebärhäuser in dezentraler Lage zu überwinden. Laut Brigitta Soraperra ist es im ländlichen Raum nahezu unmöglich geworden, eine Hebamme für eine Hausgeburt zu finden. Die „IG Geburtskultur a–z“ setzt sich dafür ein, dass sich das in Zukunft wieder   ändert. Dabei geht es laut Soraperra auch um eine Entökonomisierung des Geburtswesens. Ob in den kommenden Monaten tatsächlich eine Geburt im Hittisauer Raum aus Lehm stattfinden wird, lässt Anka Dür offen. Eines ist bereits im Vorfeld gelungen. Der Raum für Geburt und Sinne macht auf Leerstellen im gesellschaftlichen Bewusstsein aufmerksam, die es zu füllen gilt. Für die Architektur könnte das rückblickend die Geburtsstunde einer neuen Typologie bedeuten. 

Die Ausstellung „geburtskultur. vom gebären und geboren werden“ eröffnet am 4. Juli 2020 um 17 Uhr im Ritter-von-Bergmann-Saal in ­Hittisau.www.frauenmuseum.at

PROJEKTDATEN

Raum für Geburt und Sinne, Hittisau

Auftraggeberein Frauenmuseum Hittisau
Gestaltungsteam Anka Dür – Architektin, Hebamme i. A., Anna Heringer – Architektin, Martin Rauch – Künstler, Lehmbauexperte, Sabrina Summer – Designerin, Innenarchitektin
Projektpartner IG Geburtskultur a–z
Lehm-Ton-Erde Baukunst GmbH
Studio Anna Heringer
Projektleitung DI Anka Dür
Bauleitung Martin Rauch
Baumeister/Lehmbau Lehm-Ton-Erde Baukunst GmbH
Statik gbd Dornbirn
Kalkputz Calctura - Gerold Ulrich
Schindler Albert Hager - "Der Schindeler"
Fundament Berkmann Bau
Holzzubau Zimmerer Nenning OG, Simon Hofer
Licht Georg Bechter Licht
Farbberatung Fetz Color
Elektrik Licht und Wärme Elektrotechnik, Burtscher GmbH, Elektro Österle
Spenglerei Rusch - Dackdeckerei, Spenglerei
Finanzierung Crowdfunding, Sponsoring, öffentliche Hand, Ehrenamt
Planungsbeginn 09 | 2019
Baubeginn 04 | 2020
geplante Fertigstellung 07 | 2020

Gestaltungsteam
Für die Planung und Realisierung des Raumes für Geburt und Sinne bildeten die Architektin und Hebamme in Ausbildung Anka Dür, die Architek­tin Anna Heringer, die Designerin und Innenarchitektin Sabrina Summer und der Tonkünstler und Stampflehm­experte Martin Rauch ein projektbezogenes Gestaltungsteam.

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