Glasbau

Ganzglasgeländer und der Stand der Technik

Glasbautechnik
29.04.2022

Ganzglasgeländer sind sicherheitsrelevante Bauteile. Bei Versagen ist Leib und Leben bedroht. Das neu erschienene Schweizer Merkblatt SIA 2057 ist ein Meilenstein für mehr Sicherheit und weniger Schadensfälle im Glasbau.
Spannungsriss in einem Ganzglaseländer.
Spannungsriss in einem Ganzglaseländer.

Namhafte Schweizer Glasbau-Experten haben es sich zur Aufgabe gemacht, Qualitätskriterien im konstruktiven Glasbau klar und eindeutig zu definieren. In dem im Vorjahr erschienenen und seit 1. August 2021 gültigen Merkblatt SIA 2057 werden bei wichtigen Punkten keine Kompromisse gemacht. Dabei handelt es sich nicht um die berühmte "Schweizer Qualität", sondern vielmehr um die vorbehaltlose Bewertung von physikalischen, mechanischen und bautechnischen Erfordernissen, die in Fachkreisen ohnedies schon lange bekannt sind.

"Absturzsichere Verglasungen" im Detail betrachtet

Bei dem Thema absturzsichernde Verglasungen sollte man in der neuen Glasbau-"Norm" zwei Themenbereiche, die für viele Fehlentwicklungen verantwortlich sind, im Detail betrachten. Kernaussagen und deren Bedeutung in der Praxis können wie folgt zusammengefasst werden:

Gebrauchstauglichkeit – Kernaussage:

  • Die Gebrauchstauglichkeit ist ein wichtiges Qualitätskriterium.
  • Ständige Feuchtigkeit an VSG-Kanten ist zu vermeiden. Kontaktmaterialien müssen chemisch verträglich und dauerhaft beständig sein.
  • Abdichtungsmaterialien müssen den Beanspruchungen standhalten und Bewegungen zwischen den Glaskonstruktionen und Bauwerken schadlos aufnehmen.
  • Konstruktive Zwangsbeanspruchungen, insbesondere durch Temperatur, müssen bei der Spannungsberechnung berücksichtigt werden und sollen durch geeignete konstruktive Maßnahmen ausgeschlossen werden.
  • Die Dicke der Zwischenlager ist so zu wählen, dass es auch bei Verformungen unter Last zu keinem ungeplanten Kontakt des Glases mit anderen Bauteilen kommt.

Beispiel eines Glasgeländers, wie es nicht aussehen sollte, sich aber in der Praxis leider immer wieder darstellt.

Bedeutung für die Praxis:
Diese Kriterien sind besonders im Außenbereich wichtig, da ca. 80 Prozent aller Konstruktionen, die nicht selten aus Asien stammen, genau diese Kriterien nicht einhalten. Oft wird Wasser bis tief in die Profile geleitet. Eine Entwässerung ist in Anbetracht von Schmutzablagerungen nicht dauerhaft garantiert. In den Nuten entsteht oft ein Nährboden für Pflanzen, und das Glas ist mit vielen Materialien in Kontakt. Gummi-, Kunststoff- und Silikonverbindungen sind nicht dauerhaft dicht und großen Veränderungen unterzogen. Auch form- und kraftschlüssige Verbindungen können nicht funktionieren, wenn zwischen den statisch beanspruchten Metallteilen elastische Dichtbahnen oder Bitumenbahnen eingelegt sind. Dabei gibt es am Markt einige konstruktive Lösungen, bei denen die Problemstellung erst gar nicht auftritt.
Eine größtmögliche Gleichmäßigkeit in der Lagerung, ohne Gummiprofile oder andere Hilfsmittel, die verrutschen können, sind in jedem Fall von Vorteil. Lose, verschiebbare örtliche Auflager werden oft fälschlicherweise als Lagesicherung bezeichnet, obwohl sie gerade diese Aufgabe nicht erfüllen können. Nach mehrmaligem Lastwechsel sind die senkrechten Glasgeländer nicht mehr in der ursprünglichen Position. Die Gebrauchstauglichkeit ist nicht mehr gegeben.
Wenn sich bei einer Belastung Aluprofile mehrerer Millimeter aufbiegen, können Schmutz, Erde und Ähnliches in Hohlräume eindringen. Daher sind schräge Glasgeländer keine Seltenheit. Oft wird die Ursache in einer mangelhaften Montage gesucht, obwohl in Wirklichkeit die Ursache auf ein ungenügendes System zurückzuführen ist.

Spannungsspitzen durch lokale Glasverklotzungen – Kernaussage:

  • Bei nicht linienförmig gelagerten absturzsichernden Verglasungen besteht erhöhte Bruchgefahr infolge lokaler Spannungsspitzen.
  • Kombinationen aus lokalen Halterungen mit einer linienförmigen Lagerung sind ebenfalls als punktförmige Lagerung anzusehen.
  • Bei unten eingespannten Glasbrüstungen muss das Berechnungsmodell das ganze Glas inklusive des Bereichs der Einspannung abbilden (siehe Grafik).
  • Lokale Spannungskonzentrationen auf Grund der konstruktiven Ausbildung der Einspannung (z. B. durch eine lokale Glasverklotzung) müssen durch das Berechnungsmodell erfasst werden. Dies ist zulässig sofern die Berechnung mit einer volldynamischen transienten Simulation erfolgt und genau die tatsächliche Situation repräsentiert.
Statisches Schema für die Modellierung eingespannter Gläser. Bei unten eingespannten Glasbrüstungen muss das Berechnungsmodell das ganze Glas inklusive des Bereichs der Einspannung abbilden.

Veränderung der Glaslagerung.

Bedeutung für die Praxis:
Bei vielen angebotenen Produkten kann von einer gleichmäßigen Linienlagerung keine Rede sein. Die Befestigung im Einspannbereich erfolgt mit örtlichen, oft auch mehrteiligen Druckstücken, die im Prinzip von Spaltkeilen, Schiebekeilen oder Drehkeilen funktionieren. Dabei wurde in der SIGAB-Richtlinie bereits 2007 vorgegeben, dass keinesfalls Keile verwendet werden dürfen.
Werden Keile oder andere archaische Konstruktionen gewählt, ist eine statische Beurteilung schwierig. Die wirkende Kraft ist nur rechtwinkelig zur Keilfläche messbar. Aufgrund der Toleranzen und der Konstruktionen ist es nicht vorstellbar, die Klemmkraft über die Vortriebstiefe des Keiles zu bestimmen, einzustellen oder seriös zu berechnen.
Es geht nicht nur um eine theoretische Betrachtung, denn auch in der Praxis häufen sich die Schadensfälle, bei denen Bruchursachen kritisch hinterfragt werden. Das Problem liegt darin, dass selbst bei einer statischen Überlast, z. B. wenn ein Auto leicht gegen ein Geländer fährt, der Glasbruch immer von einem dieser örtlichen Druckpunkte ausgeht. Niemand kann in so einem Fall den Nachweis erbringen, dass dies auch passiert wäre, wäre die Glaslagerung normgerecht als Linienlagerung ausgeführt worden.

SIA 2057: Grundlage für Qualität im konstruktiven Glasbau

Das neue Glasbau-Merkblatt SIA 2057 thematisiert viele Sachverhalte, über die lange oft hinweg geschaut wurde. Konstrukteure, Systemhersteller und Ausführende werden direkt angesprochen.
SIA 2057 ist eine Grundlage, die eine hohe Qualität im konstruktiven Glasbau weit über die nationalen Grenzen hinaus als Stand der Technik positioniert. Die gewünschten Qualitätsstandards sollen immer vom Kunden oder dessen Architekt*in vorgegeben werden. Als Ausführender ist man gut beraten, Qualitätsunterschiede aufzuzeigen, denn nicht selten bestellt der Kunde das Allerbilligste und behauptet dann beim ersten Anlassfall, dass ihm die allerbeste Qualität zugesichert worden sei. Wenn jedoch Qualitätsunterschiede so gravierend sind, dass sie nicht einmal der Norm und dem Stand der Technik entsprechen, sollte man bessere Lösungen suchen.
(bt)

Bezugsquelle

DasMerkblatt SIA 2057:2021 ist kostenpflichtig über den SIA-Shop zu beziehen.

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