Arthur Mamou-Mani: Es fehlt oft die natürliche Unordnung

Interview
02.06.2020

 
Evolutionäre Algorithmen nützen: Arthur Mamou-Manis Werke umfassen Architektur, Pop-up-Installationen, Einzelhandel, Innenarchitektur, alle unter Verwendung digitaler Fabrikation. Ein Hauptmerkmal in seinem Werk sind die exquisiten Details – oft aus Holz – und die Bedeutung des Lichts. Eine seiner jüngsten spektakulären Interventionen temporärer Architektur wurde beim Burning Man Festival 2019 präsentiert. Wir trafen ihn letzten Herbst anlässlich seines Aufenthalts in Wien bei seinem Vortrag „Towards a ­Circular Architecture“, der von Bauwerk Parkett organisiert wurde. Susanne Karr im Gespräch mit Arthur Mamou-Mani
Arthur Mamou-Mani mit „Conifera“, einer Kooperation mit COS: Die gedruckte 3D-Architekturinstallation im Mailänder Palazzo Isimbardi war während des Salone del Mobile 2019 öffentlich zugänglich.
Arthur Mamou-Mani mit „Conifera“, einer Kooperation mit COS: Die gedruckte 3D-Architekturinstallation im Mailänder Palazzo Isimbardi war während des Salone del Mobile 2019 öffentlich zugänglich.

Die Natur zeigt uns Best-Practice-Beispiele für technische Strukturen und Funktionen. Ihre Design- und Architekturprojekte scheinen von den Begriffen Biomimikri und Nachhaltigkeit inspiriert zu sein. Was sind die Herausforderungen für Architekten heute, unter diesem Aspekt der organischen Perfektion, der als Modell dient? Was sind Ihre Bestrebungen?  
Mamou-Mani: Die Natur hatte Zeit, sich zu entwickeln, und sie ist extrem ortsspezifisch. Sie entwickelt sich innerhalb eines Ökosystems, von dem wir im urbanen Lebensstil weitgehend abgekoppelt sind. Ich etwa bin in Paris und London aufgewachsen. Diese Abkopplung hindert uns daran zu verstehen, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Seltsamerweise hat uns das Arbeiten mit Algorithmen und parametrischem Design zu Prozessen zurückgebracht, die der natürlichen Welt ähnlich sind. Wir analysieren Sonnenlicht- und Windströme, warum eine bestimmte Form besser ist als eine andere, warum es im Haus kühler wird, wenn man diesen oder jenen Winkel benutzt. Es gibt sogenannte evolutionäre Algorithmen, die es erlauben, eine Form entstehen zu lassen, wenn man eine Reihe von Parametern vorgibt.

Ähneln diese Algorithmen denjenigen, mit denen man Stadtwachstumsprognosen entwickelt hat? Das spanische Labor des Architekten Ivan Bezos hat beispielsweise mit seinem algorithmischen Modell die Wolkenkratzer-Entwicklung in Mina-To in Tokyo mit einer Genauigkeit von etwa 80 Prozent vorhergesagt.
Erstaunlich! Ja, es gibt eine gewisse Logik in diesen Prozessen, und es ist wirklich großartig, dass Architekten sich einem Verständnis solch unterschiedlicher Parameter zuwenden, wenn sie ein Gebäude entwerfen.

Wollen Sie damit sagen, dass Sie durch die Implementierung von Algorithmen zu einer anderen Sichtweise von Architektur und Natur gelangen?
Ja! Warum ist ein Baum so, wie er ist, warum hat er sich in einer bestimmten Form entwickelt? Das versuchen wir auch mit meinen Studenten herauszufinden, warum hat eine Ananas diese Form und die Banane eine andere? Was sagen uns Formen und Farben der verschiedenen Blumenarten? Wie haben sie sich entwickelt? Wo kommen sie her? Das wirklich Interessante ist, sich diese Fragen als Architekt zu stellen und die Natur mit unserem Wissen zu betrachten.

Welche Folgen ergeben sich?
Wenn Sie etwa an Sonnenblumenkerne denken, die sich in einer Fibonacci-Folge orientieren oder an Galaxia beim Burning Man Festival mit dem Tempel: Das sind Systeme, die auf dieser Logik basieren. Wir bringen den Computer dazu, Lösungen zu finden, die auch äußere Faktoren wie Sonne und Wind einbeziehen und bei denen wir nicht direkt modellieren. Seltsamerweise sind die Formen, die wir erhalten, denjenigen ähnlich, die wir in der Natur finden. Es besteht eine merkwürdige Beziehung zwischen hoch algorithmischem Design und natürlichen, lebenden Dingen.

Sie erwähnen den Tempel auf dem Burning Man Festival, der ziemlich spektakulär aussieht. Bei den Feierlichkeiten am Schluss wird dieser Tempel verbrannt – ein Teil des Rituals, der unverständlich anmutet. Die auf Algorithmus-Basis modellierte feine Holzkonstruktion wird von Flammen vernichtet, das kann nicht gerade als nachhaltig bezeichnet werden.
Nicht alles wird am Ende des Festivals verbrannt, der Name „Burning Man“ ist etwas irreführend.

Aber das Verbrennen des Tempels ist ein sehr wichtiger Teil.
Der Tempel wird verbrannt, ja. Black Rock City, der Ort des Geschehens, wurde gebaut, um das Fest auszurichten. Die ganze temporäre Stadt versammelt für eine Woche an die 70.000 Menschen. Zu Beginn bringen alle ihre Dinge mit, die sie in der Woche brauchen, am Ende nehmen sie sie wieder mit. Das ist eine grundlegende Idee. Es werden Workshops veranstaltet, Kunstwerke produziert, und das meiste wird nicht verbrannt. Das Einzige, was wirklich konsequent verbrannt wird, ist der namensgebende „Mensch“ im Zentrum, der „Burning Man“, der am Samstag verbrannt wird, und der ist mittlerweile winzig klein. Es gibt meist ein Feuerwerk, das Ritual wird ein Stück weit ersetzt. Am Sonntag wird der Tempel verbrannt. In der Tat ist es nie gut, Holz zu verbrennen. Das Festival versucht, sich davon zu lösen. Doch der Tempel ist ein besonderer Ort, an dem die Menschen trauern, persönliche Dinge aufstellen, Asche von Verwandten einstreuen. Es ist sehr bewegend, das zu sehen. Das Verbrennen erfolgt in völliger Stille, es ist ein Moment, in dem alle loslassen. Wir könnten diese Idee neu erfinden, obwohl ich keine klare Vorstellung einer Alternative habe. Ich weiß aber, dass ich beim nächsten Mal ein Projekt aufbauen werde, das man wieder auseinandernehmen und neu verwenden kann.

Der neue Tempel wird also nicht verbrannt werden? Ist das eine Richtungsänderung?
Ein Schritt vorwärts, ja, (lacht). Ich möchte nicht Zerstörung verteidigen. Doch die Idee, Gebäude als vergänglich zu betrachten, ist sehr stark. Das kann eine gute Therapie für Architekten sein. Dauerhaftigkeit der Dinge ist nicht unbedingt eine gute Sache. Das mag paradox sein.

Aber das Zerlegen wäre ja ein ähnlicher Prozess, der die Dauerhaftigkeit ebenfalls infrage stellt. Und man könnte die Elemente erneut verwenden. Damit wäre auch eine mögliche Assoziation mit den Scheiterhaufen der Hexenverbrennungen und Fackelmärschen rechter politischer Parteien unmöglich.
Oh, diese Verbindung hatte ich nie. Für mich entsteht eher ein Gefühl von Lagerfeuer, an dem Menschen Geschichten erzählen. Oder eine Erinnerung an emotionale Momente, wie beim Verbrennen alter Briefe der Ex-Freundin.

Eine andere Assoziation wären jedoch Bücherverbrennungen.
In der Tat ist das Verbrennen eine sehr gewaltsame Art, etwas loszulassen. Andererseits hat das Verbrennen von Leichen auf dem Friedhof auch diese Symbolik der Nicht-Dauerhaftigkeit. Langsam werden die Dinge ausgelöscht, alles verblasst. Aber „Burning Man“ kann sich neu erfinden. Ich bin gespannt, was passiert, wenn ich vorschlage, das Bauwerk zu demontieren, das Ritual gewissermaßen neu zu erfinden. Kann das Zerlegen Teil eines Rituals sein, das ähnlich stark wirkt wie ein Feuer? Wir werden es versuchen, das ist ja das Schöne an „Burning Man“, dass wir Dinge ausprobieren können.

Was hat Sie veranlasst, eine wiederverwendbare Konstruktion zu entwickeln?
Es ist interessant, wenn man sich die tatsächlichen Auswirkungen der Dinge ansieht, etwa wenn man die CO₂-Emissionen des Verbrennungsvorgangs mit dem Ausstoß eines Flugzeugs vergleicht. Oder man Klimaanlagen betrachtet, deren ausströmendes Gas ist zehnmal schlimmer als Kohlen­dioxid. Gegenwärtig tragen Klimaanlagen mit ihren Kühlgasen stark zu den Treibhausgasen bei.

Aber das ist eine andere Geschichte, und niemand will sie erzählen. Alle wollen klimatisierte Räume.
Aber ich möchte die Fakten und Metriken kennen. Wir sehen 60 Tonnen verbranntes Holz. Wir haben 60 Tonnen Stahl recycelt. Doch wo ist letztlich der Unterschied, wenn wir alles auseinandernehmen, Lastwagen besorgen und per Luftfracht nach London bringen, damit wir das Gebäude wieder zusammensetzen konnten? Manchmal meint man nur, dass etwas nachhaltig ist.

Dem stimme ich zu. Aber vielleicht sollte man die Verwendung von so viel Holz von vornherein nicht als nachhaltig bezeichnen. Die Forstindustrie ist nicht immer so nachhaltig, wie sie zu suggerieren versucht, sie zerstört die Böden, sie pflanzt Monotonie.
Es hängt auch davon ab, welche Art von Holz man verwendet, oder ob man Schiffswege zum Transport nutzt. So verwendet zum Beispiel jemand in China Holz aus Österreich – es gibt in dem Bereich eine Menge Absurditäten. Ich ermutige wirklich jeden, sich mit den Metriken hinter den Dingen auseinanderzusetzen, auch das Label „Nachhaltigkeit“ infrage zu stellen.

Wenn man Holz nur zum Bauen und Verbrennen von Strukturen verwendet, hat es gar keinen Zusammenhang mit der Zeit, die es zum Wachsen braucht. Bäume sind Lebewesen. Und sie einfach nach zwei Jahren zu fällen und als Material zu verwenden, mutet wie sehr primitives Denken an. 
Holz kann nur dann nachhaltig sein, wenn man das Gebäude so lange nutzt, wie der Baum gelebt hat. Es gab in England viele Eichen, die auch in den Tudor-Gebäuden und für Schiffe verwendet wurden. Die Tudor-Gebäude stehen immer noch, sie haben 500 Jahre überlebt. Sie sind so zusammengebaut, dass man sie demontieren und wieder verwenden kann. Ein unglaubliches Beispiel für nachhaltige Architektur. Man hat Architektur gedacht, die Elemente zusammensetzt und verwendet, später wieder zerlegt und an anderer Stelle wieder aufbaut.

Also konstruierten sie diese Elemente für verschiedene Zwecke? 
Auf den jeweiligen Holzelementen ist notiert, welcher Teil zu welchem anderen passt. Bei genauer Betrachtung eines Tudor-Gebäudes sieht man, dass sich Buchstaben darauf befinden. Es ist wie ein Puzzle. Diese Gebäude haben Bewegungen und Jahrhunderte überlebt, weil sie lose zusammengebaut sind. Manchmal sehen sie etwas merkwürdig und ganz verdreht aus, aber sie stehen immer noch. 

Sie sind richtige individuelle Persönlichkeiten ...
... man fühlt sich mit ihnen verbunden. Unser heutiges Problem ist, dass wir aus Betonbauten nichts machen können, denn es gibt diese Idee der Modularität nicht, es fehlt die natürliche Unordnung.

Und ein Mangel an Bewegung. Im Gegensatz zu Ihren Strukturen, die sehr lebendig wirken.
Ja, sie haben eine gewisse Weichheit, die auch der psychischen Gesundheit dient. Wenn mehr weiche Materialien in unserer Umgebung verwendet würden, gäbe es mehr Toleranz für Unvollkommenheit, und wir würden uns besser fühlen. Wir leben aber in einer Art perfektionistischen Gesellschaft, die man fast als zwanghaft bezeichnen könnte. 

Wie bei einer kollektiven Zwangsneurose?
So könnte man es nennen (lacht). Die japanische Philosophie des Wabisabi hingegen akzeptiert Unvollkommenheit, wie bei handgefertigten Objekten. Es gibt eine innere Haltung, die etwa den Riss in einem Gefäß feiert. Was für eine Vorstellung, wenn wir etwa einen Riss mit Gold füllen würden! Das wäre für einen Teenager, der gerade mit Problemen kämpft, eine schöne ­Message: „Wow, Risse sind Stärke. Unvollkommenheit wird gefeiert.“ Ich finde das wunderschön. 

Sie sind selbst Software-Ingenieur und programmieren Ihre eigene Software, müssen Sie das tun, um arbeiten zu können, weil es die Programme nicht gibt, mit denen Sie arbeiten wollen? 
Wenn ich etwas kreiere, möchte ich nicht mit undurchsichtigen Instrumenten arbeiten, die ich nicht verstehe.

Man muss also die Entwicklung des Instruments kennen.
Software ist für mich undurchsichtig, wenn ich die Regeln dahinter nicht verstehe. Software schreiben, ist ein großes Wort, weil man immer auf einem Code aufbaut, den jemand anderer geschrieben hat. Für junge Architekten ist es jedenfalls wichtig, Informatik zu lernen.

Zeichnen Sie noch Skizzen von Hand? Oder fangen Sie mit CAD an?
Es kommt sehr selten vor, dass mir eine Idee kommt, die ich dann zeichne. Eher lasse ich ein paar Optionen generieren und versuche, Parameter dafür zu platzieren. Das Werkzeug soll uns etwas lehren. Im Grunde ist es eher die Arbeit eines Zuhörers, eines Beobachters als die eines Bildhauers. Als ginge man in die Natur, um einen Strauß Blumen zu komponieren. Es geht mehr darum, den Dingen zuzuhören, sie zu be­­obachten. 

Der französische Architekt Arthur Georges Joel Mamou-Mani (geboren in Paris 1983), ist Direktor des Architektur- und Designbüros Mamou-Mani Ltd, das sich auf eine neue Art von Pop-up-Architektur mit digitaler Fertigung spezialisiert hat.

Mamou-Mani studierte an der École nationale supérieure d´architecture de Paris-Malaquais sowie in London an der Architectural Association School of Architecture. Tätig war er u.a. in den Büros von Zaha Hadid Architects, Jean Nouvel und Proctor & Matthews Architects. 2011 begann er an der University of Westminster in London zu unterrichten. Sein Postulat lautet: „Bauen ist ein Ausdruck der persönlichen Freiheit“; für Mamou-Mani ist Architektur daher für alle da. Als Architekturprofessor an der University of Westminster setzt er auf den Open-Source-Gedanken und schuf für seine Studenten die Plattform WeWantToLearn.net, auf der Projekte geplant und mittels Crowdfunding finanziert werden. Neben seinem Büro Mamou-Mani ltd. leitet er außerdem mit dem FabPub ein Team von Experten für interne Berechnungen und digitale Fertigung, das beim Entwerfen, 3D-Modellieren, 3D-Drucken, Laserschneiden, Gravieren, Fertigen, Prototypen unterstützt. Und dabei auch die Möglichkeiten des DIY eröffnet, indem FabPub seine Maschinen für Laserschneiden oder 3D Druckdienste buchbar sind.

https://mamou-mani.com/

Branchen
Architektur