Dekleva Gregoric Arhitekti: Design besteht aus Entscheidungen

Interview
28.09.2020

Für ein neues Verständnis von Nachhaltigkeit: Kreislaufwirtschaft, Recyclingmaterialien und Nachhaltigkeit stehen bei Tina Gregorič und Aljoša Dekleva seit ihren Anfängen als Architekten und Designer im Mittelpunkt des Interesses. Sie gründeten ihr Büro 2003 in Ljubljana, weil sie die Idee der „Forschung durch Design“ weiterführen wollten. Beide beschäftigen sich auch mit Nanotourismus, der in vielerlei Hinsicht die totale Opposition zum bisher gültigen Tourismuskonzept darstellt. Ihre zukunftsweisenden ­Projekte wurden bereits mehrfach international ausgezeichnet. Am 6. Oktober stellen die Architekten im Rahmen von architektur in progress im Laufen Innovation Hub ihre Arbeit vor.

Aljoša Dekleva und Tina Gregorič

Sie lehren und arbeiten gleichzeitig an Architekturprojekten. Wie gelingt es Ihnen, diese unterschiedlichen Aufgaben in Einklang zu bringen? Haben Sie gelernt, die Zeit zu dehnen? 
Aljoša Dekleva (A. D.) (lacht): Noch haben wir keine geheime Technik, um die Zeit zu dehnen. Sie ist immer noch eine feste Größe. Aber wir versuchen, sie besser zu organisieren. Vielleicht hilft es, dass wir persönlich und beruflich ein Paar sind. 

2019 leiteten Sie als Frank Gehry International Visiting Chairs in Architectural Design an der John H. Daniels Fakultät für Architektur, Landschaft und Design in Toronto ein Programm zum kollektiven Wohnen. Sie befassen sich kontinuierlich mit den Themen Wohnen und Leben als aktuelle und kritische Sozial- und Umweltthemen. Was sind die wichtigsten Themen, die es zu berücksichtigen gilt?
Tina Gregorič (T. G.): Wohnen im Allgemeinen ist ein sehr wichtiges Thema, nicht nur für unsere Praxis. Als wir nach Toronto fuhren, hatten wir keine vorgegebene Agenda; wir wollten das Thema des Designstudios auf die aktuellen Fragen dieser ­Metropole und ihrer Menschen zuschneiden. In ­Toronto werden derzeit viele Eigentumswohnungstürme gebaut, generische, übereinander gestapelte Glaseinheiten. Diese Art von Lebensraum kann emotional gesehen nicht wirklich das bieten, was ein „Zuhause“ sein sollte.
A. D. Die Dichotomie von Apartmenttürmen auf der einen Seite und einer niedrigen Teppichtypologie von Stadthäusern ist es, die das Wohnszenario dort definiert. Eine wichtige Typologie dazwischen fehlt: mittelgroße erschwingliche Wohnungen. Natürlich gibt es Bauten, in denen Menschen zusammenleben. Aber in einem großen Wohnbau mit mehr als 100 Mietern gibt es keine Möglichkeit, soziale Gruppen zu errichten. Sozialstudien weisen darauf hin, dass Wohnarchitektur in Beziehung zu einem von allen genutzten Haupteingang stehen muss, wie in einer großen Familie. In gemeinsamen Alltagssituationen können die sozialen Beziehungen wachsen. Sie beeinflussen die Atmosphäre.

Das war also der Hintergrund des Toronto-Programms „Experimentelle Kollektivität“. In der Beschreibung heißt es, dass die Teilnehmer aufgefordert waren, innovative Wohnungsprototypen zu entwerfen, die bestehende und neu entstehende Haushaltsformen zu neuen sozialen und räumlichen Kollektiven verflechten sollten.
A. D. Wir wollten, dass sie zu folgender Frage experimentieren: Was ist die Wohnung, die wir morgen entwerfen müssen? Das heutige Konzept des Wohnens ist nicht nachhaltig und auch sehr teuer. Wir müssen in der Lage sein, diese Standards infrage zu stellen. Wenn wir beobachten, wie die Menschen heute leben, kommen wir zu dem Schluss, dass nicht jeder einen voll ausgestatteten Haushalt braucht. Zum Beispiel haben schon vor 20 Jahren viele Menschen nicht für sich selbst gekocht – also warum sollte in jeder einzelnen Wohnung eine komplette eigene Küche sein? Wir könnten Menschen eines zukünftigen Wohnprojekts einladen, sich vorher kennenzulernen. Es ist möglich, das Potenzial zur Bildung einer Gemeinschaft zukünftiger Bewohner auszuschöpfen, sodass sie sich irgendwie zusammengehörig fühlen. Auf diese Weise wird es leichter sein, Annehmlichkeiten zu teilen. 
T. G. Ein Teil unserer Häuser könnte halböffentlich werden. Bestimmte Räume oder Geräte in unseren Wohnungen könnten wir mit anderen teilen. In zunehmendem Maße gibt es Forschungen über die Küche als sozialen Raum. Gemeinsame Küchen sind also wirklich eine gute Intervention. Tatsächlich haben wir uns vor fast zwanzig Jahren in unserer Masterarbeit bei den AA mit dem Titel ­„Negotiate my Boundary!“, die veröffentlicht wurde, intensiv mit der massenhaften Anpassung kollektiver Wohnungen und den Möglichkeiten zur Bildung einer Gemeinschaft als Online-Sozialclub befasst, bevor wir tatsächlich einzogen und wo wir die gemeinsame Nutzung von Annehmlichkeiten wie Großküche, Heimkino oder Bad förderten.

Als Leiterin der Forschungsgruppe für Architekturtypologie und Entwerfen am Institut für Architektur und Entwerfen sind Sie seit 2014 Professorin an der TU Wien. Was sind derzeit die größten Herausforderungen in der Architekturlehre?
T. G. Zunächst einmal hat die Architekturlehre in Europa andere Herausforderungen als anderswo: Es gibt so viele charakteristische Kulturen, die miteinander verwandt, aber dennoch sehr lokal geprägt sind. Unsere Forschung konzentriert sich vor allem auf verschiedene öffentliche Architekturtypologien und ihre Beziehung zu den Nutzern. Wie kann man die Nutzer, das Programm und in der Folge die Stadt herausfordern? Andererseits kann die Bedeutung des Wohnens nie überschätzt werden, da es das Stadtgefüge und die Gemeinschaft bildet. Erschwinglicher Wohnraum war von Anfang an ein wichtiges Thema für unsere Praxis. Ich denke, man kann mit Fug und Recht sagen, dass wir mit Architektur die Gesellschaft verbessern können! Dies ist keine naive Idee einer Idealistin. Es liegt in unserer Verantwortung zu versuchen, das Leben anderer Menschen besser zu machen. Das Gesundheitswesen zu einem weiteren Schwerpunkt der Lehre an der TUW. In Dänemark haben Architekten zusammen mit politischen Entscheidungsträgern in den letzten zehn Jahren mehrere kleinere, nutzerorientiertere Gesundheitseinrichtungen strategisch entwickelt und realisiert. So haben wir mit einer Feldforschung in Kopenhagen begonnen, um sie für Mitteleuropa zu adaptieren.

Woher wussten Sie, dass das Gesundheitswesen so wichtig werden würde? Es scheint, als wären Sie Ihrer Zeit voraus gewesen. Das ist fast ein bisschen unheimlich, aber auf eine gute Art.
T. G. Die Gesundheitsfürsorge war schon immer sehr wichtig, aber die Architekten haben sie viel zu lange gemieden, um sie nur Spezialisten zu überlassen. Dies war eine kontinuierliche Entwicklung. Die Menschen leben länger, die medizinische Versorgung wird immer besser. Die Architektur des Gesundheitswesens braucht eine intensive Entwicklung. Die skandinavischen Länder sind viel fortschrittlicher bezüglich Sozialfürsorge und Gesundheitswesen. Darüber hinaus ist ein sehr wichtiges Thema die sich verändernden Beziehungen zwischen Leben, Arbeit und Produktion. Die digitalen Technologien ermöglichen es den Menschen, außerhalb der Städte zu leben und dennoch einbezogen zu werden, sodass das Landleben bis zu einem gewissen Grad Vorteile für diejenigen gebracht hat, die sich von großen Menschenmengen fernhalten wollen.

Apropos Menschenmassen: Das bringt mich zu den Fragen, auf die sich Aljoša spezialisiert hat. Als Leiter der Nanotourism Visiting School in London verbreiten Sie Wissen über Alternativen zu den unerträglichen Phänomenen des Übertourismus – wie in Barcelona, Venedig oder Dubrovnik. Was ist der Ansatz des Nanotourismus?
A. D. Nanotourismus steht für kreative Kritik am konventionellen Tourismus und seiner furchtbarsten Form – dem Massentourismus. Er folgt einem nachhaltigen und partizipatorischen Bottom-­up-Ansatz. Nanotourismus ist kein neues Konzept, wenn man aber all diesen Praktiken mit Nanotourismus einen gemeinsamen Namen gibt, macht man sie sichtbarer.

Beim Online-Symposium der TU Wien „Tourismus neu denken“ sprachen Sie über die Ausbildung vor Ort. Wie unterrichten Sie die Menschen über diese Probleme? Es gibt immer wieder Argumentationen, die ein vermeintlich demokratisches Recht auf Reisen anmahnen. Was sagen Sie dazu?
A. D. Wir haben die Möglichkeit, die Fakten zu betrachten, zu beobachten und konstruktiv kritisch zu sein. Tourismus ist einer der verantwortungsvollsten Industriezweige bezüglich Umweltverschmutzung. Er übertrifft mit seinen Werten den fossil betriebenen Verkehr. Als Covid sich ausbreitete, war der Tourismus der am stärksten betroffene Industriesektor. Die Finanzkrise verschonte ihn, aber jetzt, mit der Gesundheitskrise, steht alles auf dem Spiel. Jetzt weiß jeder, dass sich der Tourismus radikal verändern muss. Das Tourismusphänomen ist zumeist sehr weit von Nachhaltigkeit entfernt, deshalb muss es neu überdacht werden. Durch Aufklärung vor Ort können wir architektonische Probleme und Potenziale angehen, indem wir den lokalen Kontext verstehen und in ihn eingreifen.

Welche Rolle spielt die Architektur in diesem Konzept? 
A. D. Wir müssen über lokale Entitäten und unterschiedliche, hyperlokale Besonderheiten sprechen. Es liegt in der Verantwortung der Architekten, die Besonderheit zu erkennen und die Umwelt ganzheitlich zu betrachten. 

Auf der Website findet sich die Erklärung „Nanotourismus steht für eine kreative Kritik an den aktuellen ökologischen und sozialen Schattenseiten des konventionellen Tourismus. Nanotourismus ist eine standortspezifische, partizipatorische, ­lokal orientierte Bottom-up-Alternative, die sich über den Tourismus hinaus erstreckt“.
A.D. Konzepte wie Hoteldörfer sind sehr ausgrenzend mit Ausnahme einiger gut integrierter Projekte in Bezug auf die soziale Agenda und lokale Materialien. Aber im Allgemeinen ist dieses Wirtschaftsmodell mit dem Ziel, viele Menschen in generischer Architektur an einem Ort unterzubringen, nicht mehr machbar – aus offensichtlichen gesundheitlichen, aber auch aus ökologischen und sozialen Gründen. Nanotourismus knüpft hingegen bewusst soziale Beziehungen zu den Einheimischen und Wissensaustausch an. Als die AA Nanotourism Visiting School Honolulu besuchte, das ein Herz des Massentourismus ist, hatten wir lokale Experten eingeladen. In der Wahrnehmung einer Teilnehmerin, eine gefeierte einheimische hawaiianische Hula-Tänzerin, waren Hotels traditionell Orte der Freizeitgestaltung, auch für die einheimische Bevölkerung, und wurden nicht als invasive Strukturen wahrgenommen, die ausschließlich Besuchern vorbehalten sind. Einheimische gingen dort zum Cocktail oder zum Abendessen hin. 
T. G. Hotels waren früher Katalysatoren der Kommunikation. Dieser Aspekt des traditionellen Hotels ist verschwunden. Covid ist nur eine weitere brutale Erinnerung daran. Aber um in Zukunft zu überleben, werden die Hotels überdenken müssen, was sie der lokalen Bevölkerung bieten können. Jetzt brauchen wir eine große Wende zum partizipatorischen Tourismus, indem wir die natürliche Umwelt und die sozialen Besonderheiten respektieren und die bestehenden oder neuen Hotels wieder als Orte des Austauschs nutzen, wie sie früher einmal waren. Auch in Europa war jedes traditionelle Grand Hotel ein Treffpunkt, der Besucher in die lokale Umgebung brachte und umgekehrt. Aber mit dem Massentourismus wurden alle Beziehungen unterbrochen. Glücklicherweise wird die Covid-Krise definitiv dazu beitragen, den Tourismus der Zukunft neu zu definieren.

Die Definition Ihres Architekturbüros besagt, dass Sie das Konzept der Forschung durch Design und Design durch Forschung verfolgen, mit dem Ziel, das Offensichtliche infrage zu stellen. Können Sie ein wenig beschreiben, wie dieses Konzept funktioniert?
T. G. Wir betrachten Architektur als ein breites Designspektrum, das von der Türklinke bis zum Stadtplan reicht, ähnlich wie Jože Plečnik oder viele andere, darunter Ernesto Rogers.
A. D. Um etwa ein Bücherregal zu entwerfen, muss man zuerst herausfinden, woher es kommt, seine Philosophie, seine Realisierungen. Dann kann man es infrage stellen. Design als Forschung ist ein Prozess, der darin besteht, Ressourcen und Informationen zu sammeln. Darauf aufbauend muss man eine Entscheidung treffen: Design besteht aus Entscheidungen. Wenn wir mit Prototypen arbeiten, lernen wir, was die Auswirkungen unserer Entscheidungen sind. Die Infragestellung des Offensichtlichen zeigt eigentlich, dass es keine Standardsituation und damit keine Standardlösung gibt. Wenn man tiefer gräbt, stellt man fest, dass jeder spezifische Bedürfnisse hat. Alles in der Welt hat eine inhärente Vielfalt.

Und welches Projekt möchten Sie als nächstes realisieren?
T. G. 2019 haben wir den Wettbewerb für das Wissenschaftszentrum in Ljubljana gewonnen. Ein facettenreiches, komplexes und doch unglaubliches Projekt. Es wird die Wissenschaft bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen fördern, den Fortschritt von Wissenschaft und Technologie zeigen und sich gleichzeitig an die lokale Gemeinschaft wenden.
A. D. Das Projekt wird auch Wissenschaft in der architektonischen Gestaltung präsentieren. Es wird ein Demonstrationsprojekt sein, in dem wir uns mit Fragen befassen, die für die heutigen planetarischen Realitäten von entscheidender Bedeutung sind. Es wird lehrreich sein und versuchen, die Notwendigkeit der Kreislaufwirtschaft durch die Verwendung von recycelten Materialien oder Indus­trieabfällen zur Verringerung der CO₂-Belastung aufzuzeigen. Wir wollen experimentieren und Traditionen infrage stellen. 
T. G. Als Gesellschaft befinden wir uns endlich auf einer neuen Ebene des Verständnisses von Nachhaltigkeit. Wir freuen uns auf dieses Projekt. Es ist sehr aufregend!

Dekleva Gregorič Arhitekti 

2003 Gründung von Aljoša Dekleva und Tina Gregorič in Ljubljana (SI)  

Tina Gregorič, M.Arch (AA Dist), geb. 1974, Kranj (SI) 2000 Abschluss an der Fakultät für Architektur, Universität Ljubljana, Slowenien, 2001 Master in Architektur mit Auszeichnung, DRL, Architectural Association, London, GB. Von 2002–2004 Dozentin für Architektur an der IGuW, TU Graz. Seit 2014 ordentlicher Professor und Leiter der Abteilung für Bautheorie und Entwerfen, Institut für Architektur und Entwerfen, TU Wien.

Aljoša Dekleva, M.Arch (AA Dist), geb. 1972, Postojna (SI) 1998 Abschluss an der Fakultät für Architektur, Universität Ljubljana (SI), 2001 Master in Architektur mit Auszeichnung, DRL, Architectural Association, London, GB. Seit 2014 Direktor der Architectural Association Visiting School (SI). 

www.dekleva-gregoric.com

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Architektur