Sigurd Larsen: Kreativer Spielraum gesucht

Interview
27.05.2020

 
Planen für hohe Lebensqualität: Sigurd Larsens Architektur zeigt minimalistisch elegante Finesse und genügt nebenbei hohen Ansprüchen an Nachhaltigkeit. Ende April wurde der Dortmannhof, das Domizil einer Musikerfamilie in Essen, fertiggestellt. Innerhalb des bestehenden, denkmalgeschützten Gebäudes von 1791 wurden neue, ­flexible Strukturen in einer 15 Meter hohen Scheune eingepasst, die wieder entfernbar sind, und Wohn- und Arbeitsräume geschaffen. Im Gespräch mit FORUM spricht Larsen über die Herausforderung von Rahmenbedingungen, Ansprüche an Ästhetik und kreative Freiheit. Susanne Karr im Gespräch mit Sigurd Larsen
Sigurd Larsen
Sigurd Larsen

Wenn man Ihre Werkliste und Tätigkeitsfelder ansieht, zeigt sich eine starke Vermischung von Architektur und Design als Experimentierpraxis. Sie haben an Kunst- und technischen Universitäten unterrichtet und lehren seit 2016 an der Berlin International University of Applied Sciences. Gehören für Sie Experiment und Entwurf auch in der Herangehensweise zusammen?  
Sigurd Larsen: Zuallererst geht es darum, die Aufgabe und die Rahmenbedingungen zu verstehen, also zu wissen, was in einem Projekt möglich und was nicht möglich ist. Innerhalb dieses Rahmens haben wir einen kreativen Spielraum, egal ob wir Ingenieure oder Architekten sind.

Diesen kreativen Spielraum haben Sie etwa beim „Dachkiez“ in Berlin voll ausgenutzt: Für einen Plattenbau mit 270 Metern Länge in der Heinrich-Heine-Straße haben Sie einen modularen Aufsatz mit Dachgarten entworfen – ein wunderbares Beispiel für eine neue Art städtischer Wohnraumverdichtung. Beim Dachkiez werden – fast wie bei Lego – einzelne Elemente zusammengefügt. Das hat bei aller Pragmatik einen sehr innovativen und experimentellen Touch.
So eine Art Projekt hat viel mit „Applied Sciences“ zu tun, denn es geht darum zu lernen, wie man einen Entwurf zuerst denkt und dann umsetzt. Es ist wichtig, den architektonischen Vorstellungsraum für Experimente zu öffnen und nicht so streng bei den technischen Parametern zu bleiben. Hinter jedem Projekt steckt ja eine gute Idee. Zu vermitteln, wie man zu einer guten Idee kommt, wie man sie entwickelt und darstellt, um Projektpartner zu überzeugen, gehört zu den Lehrinhalten. Das gehört sowohl in eine technische als auch in eine künstlerische Universität.

Der künstlerische Aspekt wird im Bereich Wohnbau oft hintangestellt. Viele Gebäude machen einen eher nüchternen und trockenen Eindruck. Bei Ihren Projekten stehen ästhetische Aspekte hingegen im Vordergrund – die Konstruktionen sind lichtdurchflutet und wirken leicht.
Das ist auch das Ziel. Ich bin in Dänemark aufgewachsen und in Kopenhagen ausgebildet und sehe deswegen wahrscheinlich diese Trennung nicht so. Für mich sind Architekten dafür verantwortlich, technische Aspekte mit einer gewissen Idee zu verbinden und nach vorne zu bringen, damit das Ganze ästhetisch auf einem höheren Niveau landet als eine zufällige Form, die den Anforderungen der Bauordnung entspricht. 

Oft sieht man aber doch, dass viele uninspirierte Blöcke hingestellt werden.
Leider gibt es auch in Berlin, wo ich mein Büro habe, solche Beispiele. Ich frage mich dann: Wollen die Leute so wohnen? Ich glaube nicht. Sie kaufen oder mieten solche Wohnungen, weil es keine anderen gibt. Investoren sind zudem oft nicht an einer architektonischen oder innovativen Qualität interesseiert, sondern an der reinen Quadratmeterzahl. Da geht es nur um Preise und um den Immobilienmarkt. Wenn aktuell 3-Raum-Wohnungen gefragt sind, baut man möglichst viele 3-Raum-Wohnungen mit einem Flur in der Mitte. Aber das ist nicht Aufgabe der Architekten. Wir müssen uns für die Lebensqualität der Menschen interessieren, die später dort wohnen sollen. Doch auch als Investor sollte man bedenken: Wer mit Architekten arbeitet, bekommt etwas anderes. Ein Wohnbau, der von Architekten geplant ist, hat auf dem Immobilienmarkt schon einen höheren Wert und lässt sich besser verkaufen. Leider darf man aber in Europa bauen, ohne einen Architekten dabei zu haben.

Existiert dieses Modell, ohne Architekten zu bauen, auch in Dänemark? In Österreich gibt es ja neben den Architekten auch die planenden Baumeister.
In Dänemark priorisiert man Qualität, selbst wenn man auf Bezirksebene Projekte wie ein Studentenheim vergibt. Man möchte einmal etwas Ordentliches bauen, anstatt billig und schlecht, mit dem Ergebnis, dass man dafür zehn Jahre später eine Riesenrechnung für Reparaturen und Renovationsarbeiten erhält. Unsere Baukultur orientiert sich an Langlebigkeit, da geht es um die Qualität der Baumaterialien, aber auch der Räume. Dänemark ist ein Land mit guten Architekten, damit bin ich aufgewachsen. Man interessiert sich allgemein schon allein deswegen stark für Architektur, weil man viel Zeit in Innenräumen verbringt, es regnet ja sehr viel (lacht). In ­Italien ist deswegen vielleicht der öffentliche Raum wichtiger, man verbringt mehr Zeit auf der Piazza.

In einem dänischen Projekt, dem Green House in Frikøbing nahe Kopenhagen aus dem Jahr 2017, zeigen Sie außerdem, dass Nachhaltigkeit, Materialwahl und großzügige Raumaufteilung nicht teuer sein müssen. Man hört ja oft als Gegenargument, dass nachhaltiges Bauen nicht leistbar sei. 
Das Projekt begann mit dem Paradox, dass der Bebauungsplan für dieses neue Dorf ein hohes Niveau in Sachen Nachhaltigkeit vorgab, gleichzeitig aber ein eher bescheidenes Budget zur Verfügung stand. Wir mussten ökologisch bauen und gleichzeitig die Kosten im Auge behalten. Es stimmt, dass nachhaltiges Bauen normalerweise teurer ist. Deswegen war Kreativität gefragt. Wir haben extrem klein und kompakt mit einem unfassbar einfachen Grundriss gearbeitet: vier Außenwände und vier Innenwände. Wir haben keine Materialien verschwendet und versucht, mit den Kubikmetern zu arbeiten: Raumhöhe zu schaffen, gut platzierte Fenster, die ein schönes Licht reinbringen und dann zusätzliche günstige Quadratmeter in Form eines Glasdachs oder Glashauses zu schaffen. Im Dezember und Jänner ist es vielleicht zu kalt und im August zu warm, aber die restlichen neun Monate ist es extrem attraktiv, sich dort aufzuhalten. Ein Teil des Hauses funktioniert nur so und so viele Monate pro Jahr, aber es war trotzdem ein Gewinn, denn es war günstiger als ein normaler Bau. Das war also einer der Tricks, um das Budget einzuhalten.

Sind die Bauvorschriften in Dänemark im Vergleich zu Deutschland oder Österreich unterschiedlich?
In Deutschland, und soweit ich weiß auch in Österreich, kommen jedes Jahr neue Verordnungen heraus, und es bleibt den Architekten immer weniger Spielraum. So etwas wie ein Glasdach mit hineinzudenken, das wird langsam schwieriger, weil das in keine Rubrik passt und sich damit kein Punkt der umfangreichen Vorschriften abhaken lässt. Deswegen bin ich dafür, Bebauungspläne ein bisschen aufzulockern und davon auszugehen, dass Architekten gute Intentionen haben, und darauf zu vertrauen, dass die Umsetzung funktioniert. Wir müssen ja am Ende auch unseren Stempel draufsetzen.

Als nächstes Projekt steht das Lake House in Berlin an – gibt es dazu schon Neuigkeiten?
Die Baubewilligung wurde kürzlich erteilt. Es wird ein Haus, das in Holzbauweise in Kombination mit Ziegeln errichtet wird und 200 Jahre halten soll. Es hat einen geringen CO₂-Footprint und insgesamt ein hohes Nachhaltigkeitsniveau. 

Von welchen Voraussetzungen gehen Sie aus, wenn Sie dann etwa, im Kontrast dazu, in den österreichischen Alpen ein Haus planen, wie The Mountain House in Oberschlierbach?
Unterscheiden sich die Anforderungen an städtisches Wohnen – Stichwort Urbanität – grundsätzlich von jenen auf dem Land?
Beim Mountain House gab es mehrere spezielle Voraussetzungen. Das Haus wurde in einen Hang gebaut, diesen und die Landschaft sollte man auch im Inneren erleben. Den besten Ausblick hat man von der Eckbank aus. Es gibt hier leichte Kulturunterschiede in der Priorisierung von Räumen. In Skandinavien vermittelt meist das Wohnzimmer ein Gefühl von Piazza. In Österreich wäre das eher die Küche mit der Eckbank. Beim Mountain House hätten wir es erst andersrum geplant. Aber heute ist die Küche der größte Raum und in der Mitte platziert. Als Gast schafft man es wahrscheinlich nur bis in die Küche, den großen zentralen Raum, und das Wohnzimmer bleibt eher ein Raum für die Familie. Das wäre in Skandinavien umgekehrt.

Einen besonders starken Bezug von Architektur und Natur stellen Sie mit dem Projekt ­Løvtag, einem Baumhaus-Hotel her: Hier wird nicht nur der Baustoff Holz verwendet, es ist obendrein bei einem Baum situiert. Wie kann man in großem Maßstab Architektur naturnäher gestalten? Immer noch sieht man bei vielen Wohnbauprojekten kaum Pflanzen im Masterplan. Ist das nicht fast schon reaktionär? Es gibt ja zahlreiche Untersuchungen, die über die Vorteile grünerer Fassaden Auskunft geben. Gibt es da eine Denkblockade? 
Gute Frage. Wenn wir eine große Glasfassade gegen Süden planen, gehört zur Planung, Bäume mit zu pflanzen, die dann innerhalb kürzester Zeit auch Schatten werfen. Die Bäume kann der Ingenieur aber nicht kalkulieren, deswegen zählen sie nicht. Die Schattenwirkung von Bäumen „gilt“ sozusagen nicht, ist nicht berechenbar. Das ist ein Grund dafür, dass man dann Rollos einzeichnet, obwohl man ganz analog und wie vor 10.000 Jahren einfach einen schönen Baum vor das Fenster pflanzen könnte. Das scheint aber als Lösung nicht verfügbar. Diese Art von Ingenieursdenken hat die Architektur sehr stark beeinflusst und führt zu paradoxen Ergebnissen: Alles was kalkulierbar ist, hat in diesem Denken Gültigkeit, und was nicht kalkuliert werden kann, eben nicht, obwohl es da ist. 

Ein anderes Paradox, zumindest optisch betrachtet, das aber viel positiver wirkt, findet sich auf der griechischen Halbinsel ­Kythnos: Im Ihrem Haus Simousi befindet sich eine Art „endlose Treppe“, die an die berühmten Treppen in Bildern von M. C. Escher erinnert. Wie begründet sich dies, abgesehen von der Ästhetik?
Wir haben damit der strikten Bauordnung auf den kykladischen Inseln etwas entgegengesetzt. Auch hier zeigen sich europäische Kulturunterschiede. Dort leben Menschen seit 25.000 Jahren, und sie haben immer mit Stein gebaut. Man muss sich in die Kultur hineinarbeiten. Jedenfalls gelten für die Häuser sehr strenge Regeln – ausgenommen für Treppen. Die Escher-Treppe wirkt wie eine Skulptur und ist nicht eingezäunt – das wäre in anderen Ländern undenkbar.

Was verändert sich mit der Zeit beim Wohnen? 
Die Generation meiner Eltern hat in den 1970er Jahren meist große Häuser mit Sauna errichtet, es gab monofunktionale Räume und Doppelgaragen, 20 Prozent waren als Stauraum vorgesehen. Die jungen Bauherren von heute haben meist weniger Budget, aber auch ein anderes Gespür für Materialien. Sie wollen weniger Raum, achten mehr auf die Ressourcen und zeigen überhaupt mehr Bewusstsein. Es gibt einen Trend zur ­Sharing Economy, dass etwa Funktionsräume, Werkstätten und Waschküchen gemeinsam verwendet werden.

Nochmal zurück zum Dachkiez: Diese Idee würde sich ja für viele alte Gebäude adaptieren lassen. Wie kann es gelingen, dass solche Pläne auch für andere Orte angenommen werden?
Der Dachkiez hat ein Eigenleben, das mit einem Ideenwettbewerb begann, bei dem wir einen Preis gewonnen haben. Das Ergebnis wurde bei der letzten Architekturbiennale Venedig ausgestellt, anschließend in einer Berliner Architekturgalerie. Das Projekt wurde medial stark rezipiert. Momentan adaptieren wir die Pläne für einen anderen Bauherrn und ein Gebäude aus Backstein aus den 1950er Jahren. Das wäre das erste Spin-off. Eine Herausforderung ist immer, dass das Verhältnis von Bauhöhe und Abstand zu Nachbargebäuden vorgeschrieben ist, und für Änderungen des Bebauungsplans wenig Spielraum bleibt. Noch spannender wird es, wenn man zugleich Qualitäten wie Grünraum einbezieht. Wir beachten bei unseren Planungen auch, dass die bereits dort wohnenden Menschen davon profitieren, beim Dachkiez hätten etwa alle Bewohner des Hauses Zugang zum Park auf dem Dach. Es ist für uns sehr inspirierend, Kulturunterschiede zwischen neuen und alten Bewohnern zu beobachten. Es geht immer darum herauszufinden, welche Menschen und welche Geschichte für das jeweilige Projekt relevant sind. Innerhalb dessen entsteht kreative Freiheit.

Sigurd Larsen

Der dänische Architekt und Möbeldesigner lebt und arbeitet in Berlin. Er studierte an der School of Architecture der Royal Academy of Fine Arts in Copenhagen, er arbeitete bei OMA Rem Koolhaas in New York, MVRDV in Rotterdam und Topotek1 in Berlin. Büro­gründung im Jahr 2010. Von 2011 bis 2016 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Künste Berlin, am Lehrstuhl experimentelles Gestalten und Grundlagen des Entwerfens bei Enrique Sobejano, 
Seit 2016 ist Larsen Professor an der Berlin International University of Applied Sciences.

Werkauswahl
Einfamilienhäuser in Dänemark; „Loft Rooms“ im Michelberger Hotel in Berlin; Larsens Möbel sind in Geschäften und Galerien in Berlin, Kopenhagen, London, Zürich, ­Helsinki, Porto, Istanbul und zwölf weiteren Städten erhältlich. Die Arbeit des Büros kombiniert die Ästhetik von hochwertigen Materialien mit Konzepten, die sich auf eine Funktionalität in komplexen Räumen fokussieren.

www.sigurdlarsen.com

„Es ist wichtig, den architektonischen Vorstellungsraum für Experimente zu öffnen.“

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