Yasmeen Lari: Was wir tun, wirkt sich aus

Interview
10.12.2019

 
Yasmeen Lari war in ihrem früheren Leben Pakistans Star-Architektin. Sie plante Bauten wie das Headquarter für die Ölgesellschaft Pakoil in Karachi und war Pionierin des Brutalismus. Inzwischen hat sie der Repräsentationsarchitektur längst den Rücken gekehrt. 1980 gründete sie die Heritage Foundation ­Pakistan, wurde Unesco National Advisor und arbeitet heute hauptsächlich an Post-Desaster-Architektur. Sie entwickelt mit Menschen vor Ort nachhaltige Gebäude aus Lehm- und Bambusstrukturen, die Erdbeben und Fluten überstehen. Anlässlich eines Vortrags bei der Vienna Biennale trafen wir Yasmeen Lari in Wien zum Gespräch. Susanne Karr im Gespräch mit Yasmeen Lari

In Ihrer Arbeit geht es vor allem um Nachhaltigkeit – nicht nur um Architektur, sondern um einen ganzen Kulturkreis. Sie arbeiten mit der lokalen Bevölkerung und teilen mit ihr beim Lehren von Baumethoden auch Ihre historischen Kenntnisse. Sie sagen, Menschen müssen sich mit ihrer Kultur identifizieren können. Viele der Ärmeren haben im Moment keine Verbindung dazu. Durch die Einbindung von Personen in Bauprozesse vor Ort gelingt es Ihnen, eine solche Verbindung herzustellen.
Yasmeen Lari: Pakistan hat eine reiche Kultur mit einem vielfältigen Erbe, das bis in die Bronzezeit zurückreicht. Man findet unterschiedlichste Architektur-Stile. Die Armen verfügen zwar weder über Geld noch Besitz, aber über eine riesige kulturelle Reserve. Sie haben Kenntnisse über Muster und Design, beherrschen Handwerke, besonders Frauen. Sie weben Körbe, komponieren Patchworks, drucken. An unseren Bauten finden sich viele Muster und Ornamente. Muster sind Teil unseres Lebens. Bevor ich anfing, mit den Leuten zu arbeiten, wusste ich das nicht. Eine Betonwand würden sie nicht schmücken, eine Lehmwand verzieren sie.

Steigt die Lust, sich an einem Projekt zu beteiligen, wenn man sich damit identifiziert?
Am Anfang hatte ich keine Ahnung, wie kreativ die Menschen wirklich sind. Zunächst war mir nur klar, dass ich sie einbeziehen musste. 

Sind das gleich viele Frauen wie Männer?
Manchmal beteiligen sich mehr Frauen. Etwa bei unserem Herd-Projekt. Bis jetzt haben wir 60.000 Lehmöfen gebaut. Jeder einzelne ist einzigartig und wurde von einer anderen Frau dekoriert. Es ist deren spezielles kleines Stück „Architektur“, nicht meines. Ich habe die Grundlage geschaffen, sie aber heben es auf eine andere Ebene.

Sind Sie selbst Teil kollaborativer Praktiken, in die Sie Menschen einbinden?
Ich habe den Input geliefert, den Lehmofen als erhöhten Herd zu integrieren und eine Plattform entworfen, so dass Flutwasser ihn nicht mehr wegspülen kann. Die Dekoration bestärkt das Recht auf individuellen Ausdruck und verleiht Würde. Jeder soll sein eigenes Ethos, seine eigenen Gefühle ausdrücken können. Das bewirkt mehr als das Schaffen einer bloßen Struktur. Und der Kochplatz wurde in eine Art sozialen Raum, ein Esszimmer, inte­griert. Vorher gab es keinen gemeinsamen Essplatz der Familie. Durch diese erhöhte Plattform wird nun auch Staub oder Schmutz abgehalten, und Kinder können sich an den offenen Feuerstellen nicht mehr ihre Finger verbrennen. Es ist ein Ort entstanden, an dem man auch die Wäsche oder sonstige Arbeiten erledigen kann, ein sozialer Ort, der respektabler wirkt, weil man nicht direkt auf dem Boden sitzt. Es macht einen großen Unterschied, ob man auf dem Boden hockt oder aufrecht auf einer erhabenen Fläche sitzt. So kann man Grundlagen im Alltag schaffen, die das Leben verändern.

Architektur kann also tatsächlich beitragen, den Lebensstil zu verändern?
Das muss sie, sonst ist sie nur ein Stück Struktur. Ein weiteres Praxisbeispiel zum Einfluss architektonischer Inputs sind unsere Toiletten. Es herrscht immer noch ein Defizit von Millionen von Toiletten, das ist besonders für Frauen schrecklich. Sie brauchen ihre Privatsphäre. Lange wurde dies nicht ernst genommen. Mit funktionierenden Toiletten kann man aber Status und Würde aufwerten.

Sie haben dabei mit schnell konstruierbaren Bambusstrukturen angefangen ...
Ja, aber es gibt viele Kombinationsmöglichkeiten, auch etwa mit Schlammwänden. Wir binden die Community immer ein. Sie muss ihren Teil beisteuern, bevor wir eingreifen. Wenn sie eine solche Wand bauen, geben wir ihnen einen sogenannten Öko-Eimer, ein sehr kostengünstiges System zum Sammeln des Feststoffs, der zu Kompost verarbeitet werden kann, und eine Schüssel zum Händewaschen. Unsere Kosten für die Herstellung einer Toilette sind sehr gering, von uns kommt nur noch ein Dach. Wenn es an manchen Stellen nicht genug Erde bzw. Lehm gibt, steuern wir den Bambusrahmen bei, die Errichtung erledigen sie selbst.

Als ersten Schritt beziehen Sie die Menschen ein, Sie versuchen sie zu motivieren, selbst etwas zu ändern. Erst dann kommt Ihr Know-how zum Tragen.
Ja, sie müssen Bereitschaft zeigen, aktiv werden. Ich denke, der Charity-Gedanke, ihnen nur Almosen zu geben, ist der falsche Ansatz.

Charity hat oft etwas Herablassendes ...
Dazu kommt, dass die Verwaltungskosten internationaler, auf dem Charity-Gedanken basierender Wohltätigkeitsorganisationen hoch sind. Es wird in Clustern gearbeitet, einer ist für Wasser, der andere für die Unterkunft zuständig, dieses System funktioniert aber nicht. Und all das Geld bewirkt letztlich vergleichsweise wenig.

Außerdem sind viele Mitglieder der Support-­Teams sehr gut bezahlt.
Deswegen bin ich mit diesem Modell nicht einverstanden. Wir müssen die Art und Weise, wie wir mit Menschen arbeiten, grundlegend ändern. Ein Land wie das meine und andere sogenannte Entwicklungsländer haben riesige Probleme mit Korruption. Wir müssen sicherstellen, dass das Geld an die Armen geht und nicht in den Taschen der Reichen und Korrupten versickert. Die Materialien, die ich verwende, Erde, Kalk und Bambus, haben den Vorteil, dass man sehr wenig Geld damit verdienen kann. (lacht)

Ihre Aussage, dass Sie bei Ihrer Rückkehr nach dem Studium an der Universität Oxford die westliche Architektur wieder verlernen mussten, ist interessant. Können Sie diesen Prozess beschreiben?
Es gibt viel zu lernen und zu verlernen. In der westlichen Architektur lernt man viel über das Ego und darüber, „das Richtige zu tun“. Die Architektur in meinem Land unterscheidet sich gravierend von dieser Idee, denn man muss sich auf das beziehen, was bereits vorhanden ist. Wir können nicht einfach das westliche Modell übernehmen. Um zu verlernen, muss man ein paar Schritte zurückgehen, um ein größeres Blickfeld zu gewinnen. Ich hatte das Glück, viele mittelalterliche Städte besuchen und erforschen zu können und dabei das reiche kulturelle Erbe besser kennenzulernen.

Wie waren Ihre Erfahrungen als Frau in der Architektur? Sie waren eine sehr berühmte Architektin, aber auch heute noch ist – gerade im Bereich der Architektur – keine Rede von Gleichberechtigung.
Ich war damals sehr privilegiert und hatte nicht die Schwierigkeiten, mit denen Architektinnen heute konfrontiert sind. Jeder war sehr rücksichtsvoll und höflich, wegen der Verbindungen meiner Familie, die jeder kannte. Ich war irgendwie geschützt.

Es ging also mehr um die Herkunft, als darum, ob man Frau oder Mann ist.
Es hatte sicher damit zu tun. Heute gibt es mehr Frauen, die in der Architektur arbeiten und um ihren Platz in der Gesellschaft kämpfen müssen. Ich hatte Glück und viele Möglichkeiten. Die Arbeit in Erdbebengebieten war Neuland, man wusste nicht viel darüber. Ich war in der Lage, dahin durchzudringen. Das hat mir viele weitere Möglichkeiten eröffnet. Was ich dabei gelernt habe: Scheu dich nicht. Wenn sich eine Gelegenheit bietet, etwas zu bewirken, solltest du es versuchen – und es wird funktionieren!

Was geben Sie den Menschen, mit denen Sie zusammenarbeiten, weiter?
Wenn Menschen, vor allem Frauen, aus marginalisierten Verhältnissen, die noch nie Gelegenheit hatten, ihre Fähigkeiten zu zeigen, eine Aufgabe gestellt wird, wollen sie sich beweisen, und die Ärmsten der Armen leisten erstaunliche Arbeit. Sie sind alle begeistert, wenn sie entdecken, etwas beitragen zu können. Anfangs sind sie nicht in der Lage, sich auszudrücken. Sechs Monaten später sind sie verändert. Sie beginnen, Geld zu verdienen und ihr Leben aktiv zu gestalten. Heute wird der Ton, den wir verwenden, von diesen Frauen hergestellt, es ist der beste Ton, den man in Pakistan für die Herstellung von Terrakotta findet. Ich will, dass sich all diese guten Dinge in den Dörfern ausbreiten und zwar für die Armen, sie sind es, die gute Qualität zu einem niedrigen Preis brauchen.

Haben Sie sich deshalb entschieden, keine Star­architektin mehr sein zu wollen?
Die Stararchitektur habe ich aus einem anderen Grund aufgegeben. (lacht) Mein Mann hat seine Versicherungsgesellschaft verkauft, er wurde Historiker und schreibt Bücher. Ich fand das nicht fair und wollte auch Bücher schreiben. Also gab ich das Architekturbüro 2000 auf und begann als Beraterin für Weltkulturerbe-Stätten zu arbeiten. Mit dem großen Erdbeben kam dann alles ganz anders. Seither war ich an Architekturprojekten nach Katastrophen beteiligt, diese Arbeit beschäftigt mich auch heute – viele Bücher habe ich nicht geschrieben. Überwältigend war die große Hilfe, denn begonnen habe ich buchstäblich ohne Geld. Freiwillige aus der ganzen Welt kamen, Finanzierungspläne wurden entwickelt. In Pakistan gab es ja eine Katastrophe nach der anderen. Mir war klar, dass ich hier weitermachen musste – und ich habe dabei viel gelernt.

Sie sehen Menschen als kommunikativ und hilfsbereit, sie wollen nicht in Konkurrenz zueinander stehen, sondern zusammenarbeiten.
Jeder will ein besseres Leben, Kooperation hilft dabei. Wir arbeiten mit vielen Dörfern zusammen, in denen es Bettler gibt, vor allem in der Nähe von Weltkulturerbe-Stätten. Ich versuche, die Gemeinschaft in nachhaltige Prozesse einzubeziehen. Anfang letzten Jahres startete ich das Programm „The Right Space Development“, denn jeder braucht einen sicheren Lebensraum, sauberes Wasser, einen Kochherd, eine Toilette. Diese vier Dinge müssen angestrebt werden. Zu Beginn eines Projekts sage ich: „Hier habt Ihr Bambusstrukturen, eine Handpumpe. Die Plattform und die Strukturen müsst Ihr selbst fertigstellen“. Unglaublich, was in einem Monat Freiwillgenarbeit für ein Dorf geleistet werden kann, das zuvor schmutzig und in einem wirklich furchtbaren hygienischen Zustand war. Das birgt große Chancen. Oft übernehmen dabei Frauen die Führung. Sie wollen ein besseres Leben für ihre Kinder. Mit vielen von ihnen inter­agieren wir inzwischen ständig.

Eine Strategie, um der Klimakrise und dem gesellschaftlichen Wandel zu begegnen.
Auf jeden Fall. Das ist das Wunderbare. Vor Jahrzehnten gab es nicht allzu viel Verständnis,  was mit der Welt vor sich geht, schon gar nicht bei den Armen. Inzwischen wissen wir alle: Wenn es uns gelingt, die CO2-Emissionen zu reduzieren, können wir den Klimawandel verzögern oder abschwächen. Das müssen wir bei jedem Schritt berücksichtigen. Die Bauindustrie kann viel Energie sparen, etwa bei der Verwendung von Stahl und Beton. In den Dörfern brauchen wir solche Materialien überhaupt nicht. Wir benutzen sie aber, weil wir internationale Bauweisen mit Beton und Stahl kopieren – das ist nicht nötig. In Städten kann man hybride Architektur einsetzen. Vielleicht sind Stahlrahmen oder Betonrahmen manchmal unverzichtbar, aber für den Innenausbau braucht man keine Materialien mit hohem Kohlenstoffausstoß, man kann etwa Bambustrennwände verwenden.

Sie integrieren hauptsächlich lokale Materialien?
Darum geht es auch bei internationaler Katastrophenhilfe. So viel Geld fließt in Baustrukturen mit hohen CO2-Emissionen, wo vorgefertigte Stahlkonstruktionen verwendet werden. Warum? Erde, Kalk und Bambus haben buchstäblich keine Kohlenstoffemissionen.

Und sie müssen nicht importiert werden.
Wir können die lokale Wirtschaft beleben, und die Baukosten werden minimiert.

Interessieren sich die Menschen auch für nachhaltige Architektur?
Vielleicht spielt diese für sie theoretisch keine Rolle, aber sie mögen das Ergebnis, weil es sich mit der Isolierung, die Lehm ermöglicht, sehr bequem leben lässt. Und all unsere Bambusstrukturen haben die schrecklichen Sturzfluten überlebt.

Wie kann man diese alternative Erfolgsgeschichte in die Welt hinaustragen und präsenter machen?
Das liegt an euch, der Presse (lacht). Ich bin auf Pakistan beschränkt. In den sogenannten Entwicklungsländern wirkt sich die Klimakrise am stärksten aus. Ich habe ein sogenanntes „Barfußmodell“, ein „Barfuß-Ökosystem“ entwickelt, bei dem alle Unternehmen zum Wohle der Gesellschaft arbeiten, außerdem einen „Barfuß-Inkubator“ für soziales Wohlbefinden und ökologische Nachhaltigkeit, der den Menschen beibringt, wie man besser baut. Wir bieten groß angelegte Trainingsprogramme für die lokale Bevölkerung an. Nach fünf bis sechs Tagen Unterricht beginnen die Menschen, selbst aktiv zu werden. Mit einem Mentoring-System begleiten und betreuen wir sie. Bis dahin arme Menschen beginnen, Geld zu verdienen, andere zu lehren, ihr Wissen zu teilen.

Sind auch Tiere in diese Programme integriert?
Ja, Tiere sind wichtig, viele Leben hängen von ihnen ab. Sie brauchen Aufmerksamkeit und Pflege. Manchmal sind sie noch wertvoller als Menschenleben, da alles so teuer wird. Wir informieren etwa, wie man Mist für die Kompostierung verwendet. Und wir lehren viel über Pflanzen und nachhaltige Landwirtschaft. Sobald die vier von mir genannten Elemente – sichere Unterbringung, Wasser, Herd und Toilette – garantiert sind, beginnen wir, Bäume für einen Gemeinschaftswald zu pflanzen. Oft enthält der Boden viel Salz, also haben wir zum Gemüseanbau Bambuspflanzkästen entwickelt. Das Dorf verbreitet dann dieses Wissen. Andere Dörfer wiederum verbreiten ihr spezielles Wissen. Das Potenzial ist riesig, und wir werden unseren Einsatz verstärken.

"Scheu dich nicht. Wenn sich eine ­Gelegenheit ­bietet, etwas zu bewirken, solltest du es versuchen – und es wird funktionieren."

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