Interview

"Der Bau hinkt weit hinterher"

Bauwirtschaft
01.11.2023

Der Unternehmensberater Stephan Hundertmark kritisiert, dass die Produktivität in der Bauindustrie viel zu niedrig ist. Die Lösung: der konsequente Einsatz von industrieller Vorfertigung.
Stephan Hundertmark
Stephan  Hundermark

Herr Hundertmark, Sie sind der Ansicht, dass die Bauindustrie für die Krise, in der sie steckt, selbst verantwortlich ist…

Stephan Hundertmark: …zumindest zum Teil.

Wie kommen Sie zu diesem Urteil?

Hundertmark: Das Problem ist die Produktivität. Ein Bauarbeiter, der 1991 ein Haus gebaut hat, schafft das heute nicht mehr in der gleichen Zeit. Ein VW-Mitarbeiter, der 1991 einen Golf gebaut hat, schafft heute in der gleichen Zeit fast zwei. Anders formuliert: Während sich die Produktivität je Arbeitsstunde in der produzierenden Industrie in den vergangenen 30 Jahren fast verdoppelt hat, ist sie am Bau faktisch gesunken. Der Bau hinkt weit hinterher.

Was ist der Grund dafür?

Hundertmark: Ich sehe zwei Gründe. Erstens: Die Gebäude sind komplexer geworden. Sie können mehr. Denken Sie nur an die thermische Bauteilaktivierung, mit der man Räume effizient heizen und kühlen kann. Das erhöht den Wohnkomfort und steigert den Bestandswert des Gebäudes. Das ist gut. Aber die Vielfalt der neuen technischen Lösungen führt auch dazu, dass die Koordination beim Bau aufwendiger wird. Der ganze Prozess wird komplexer. Sie brauchen mehr Zeit, um das Gebäude fertigzustellen.

Das kann man der Branche kaum vorwerfen. 

Hundertmark: Das mache ich auch nicht. Mir geht es darum, Lösungen aufzuzeigen. Das führt mich zum zweiten Punkt: Die produzierende Industrie hat massiv in die Automatisierung investiert und ihre Prozesse stetig verbessert. Die Verdoppelung der Produktivität kommt ja nicht von ungefähr. Am Bau arbeitet man dagegen noch wie vor Jahrzehnten – nach Gewerken getrennt, Stein auf Stein.

Bis vor kurzem ist die Baubranche damit gut gefahren. Das Geschäft hat geboomt.

Hundertmark: Ja, in der vergangenen Boom-Dekade war die Welt oberflächlich betrachtet noch in Ordnung. Rohstoffe und Finanzierungen waren billig, die Nachfrage hoch. Die Bauunternehmen haben die starke Nachfrage vor allem mit billigen Arbeitskräften aus Osteuropa abgedeckt. Das war kurzfristig gesehen durchaus vernünftig, aber eben nicht weitsichtig. Dadurch wurden Defizite verdeckt: Fehler in der Planung, Kostenüberschreitungen, größere und kleinere Mängel in der manuellen Ausführung je nach Tagesform – darüber wurde großzügig hinweggesehen.

Und das hat sich jetzt geändert?

Hundertmark: Ich denke, das ist offensichtlich. Die Zinsen sind hoch, die Rohstoffe teuer – die Kunden können und wollen sich immer weniger leisten Mängel zu akzeptieren. Dazu kommt, dass das Potential an billigen Arbeitskräften in Osteuropa auch irgendwann erschöpft ist. In Polen beklagt man bereits, wie bei uns, einen Fachkräftemangel. Der Bau muss sich etwas anderes überlegen.

Das sagt sich leicht. Aber ist nicht auch die öffentliche Hand gefragt, Impulse für die Baukonjunktur zu setzen und die überbordende Bürokratie abzubauen?

Hundertmark: Auch. Ja. Nun werden Förderungen für Familien und Investoren thematisiert und gefordert, dass der Normen- und Vorgaben-Dschungel gelichtet wird – und all dies durchaus zurecht. Aber aus der Krise führen werden diese Maßnahmen den Bau nicht.

Verdoppelung der Produktivität ist möglich

Was führt dann aus der Krise?

Hundertmark: Die Bauindustrie muss jetzt endlich ihre Hausaufgaben machen und ihre Produktivität steigern. Wenn es um bezahlbares Bauen, kurze Bauzeiten und Ressourceneffizienz beim Bau geht, ist die Bauindustrie in der Pflicht, Lösungen anzubieten. Sie muss sich selbst eine Zukunft zu erarbeiten. Sie werden sicher jetzt fragen: Wie soll sie das schaffen?

Gute Frage! Wie?

Hundertmark: Indem sie die industrielle Vorfertigung von Bauteilen nutzt – man spricht hier auch von „prefab“. Prefab ermöglicht industrialisierte Prozesse mit effektiver Automatisierung und Skaleneffekten, industrielle Qualitätssicherung, höhere Montageeffizienz und Ressourceneffizienz sowie wetterunabhängige Abläufe.

Wie schaut prefab in der Praxis aus?

Hundertmark: Bislang werden vor allem zwei Ansätze verfolgt: In der Skelettbauweise wird eine Trägerkonstruktion aus Holz oder Stahlbeton errichtet, auf der anschließend vorgefertigte Wandelemente montiert werden. Bei der modularen Bauweise werden ganze Raummodule im Werk vorgefertigt, die man auf der Baustelle dann wie Legosteine aufeinandersetzen kann – man muss vor Ort, vereinfacht gesagt, nur noch die Schutzfolien entfernen und die Dichtflächen abdichten.

Täusche ich mich, oder wird in der Fertighaus-Branche nicht bereits seit vielen Jahren konsequent auf die industrielle Vorfertigung gesetzt.

Hundertmark: Ja und nein. Auf „Vorfertigung“ auf jeden Fall. Aber von „industriell“ würde ich nicht sprechen. Die Anbieter von Fertigteilhäusern arbeiten weitgehend noch wie Manufakturen. Der Automatisierungsgrad ist noch nicht sehr ausgeprägt. Und diese Anbieter haben vor allem das Einfamilienhaus im Blick. Mit dem Einfamilienhaus wird man aber den Wohnungsbedarf nicht abdecken können. Das geht nur mit Mehrfamilienhäusern. Aber es stimmt: Prefab ist als Konzept nicht neu. Es war immer schon eine Lösung, wenn es kosteneffizient oder günstig sein sollte. Die Bauhaus-Schule hat diesen Ansatz bereits vor 100 Jahren entwickelt. Das Ziel damals: Günstigen Wohnraum mit einer ansprechenden Ästhetik schaffen. In Osteuropa ist dieser Ansatz dann in Form des sozialistischen Plattenbaus wiederbelebt worden – nur ohne Anspruch an die Ästhetik.

Wie intensiv wird prefab bereits eingesetzt?

Hundertmark: Die Bauleistung für Wohn- und Gewerbeimmobilien in Europa lag im Jahr 2022 bei rund 680 Milliarden Euro. Der Markt für Vorfertigung am Bau wird auf 26 bis 30 Milliarden Euro jährlich geschätzt – das entspricht einem Anteil von vier Prozent. Da ist also noch Luft nach oben.

Wie viel Luft ist das Ihrer Einschätzung nach?

Hundertmark: Man wird die Arbeit am Bau nicht völlig automatisieren können. Aber das Potenzial ist sicher hoch. Und ich bin nicht der Einzige, der daran glaubt: Das deutsch-österreichische Unternehmen Gropyus, das sich auf serielles Bauen spezialisiert hat, ist ein gutes Beispiel. Es hat vor kurzem angekündigt, sein Werk am Standort Richen in Süddeutschland auf eine Kapazität von 3.500 Wohnungen pro Jahr zu erweitern. Das Besondere daran: Die Anlage wird mit 45 Robotern ausgerüstet und zu 86 Prozent automatisiert sein. Ein Wandelement kann dort in 17 Minuten produziert werden, ein Deckenelement in 16. Da kann der schnellste Maurertrupp der Welt nicht mithalten.

In welchem Umfang kann die Produktivität in der Baubranche durch industrielle Vorfertigung gesteigert werden? Ist eine Verdopplung wie in der Autoindustrie möglich?

Hundertmark: Das sollte zumindest der Anspruch sein. Ich wüsste nicht, warum das nicht möglich sein sollte.

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