75 Jahre Tischler Journal
Über sieben Jahrzehnte liegen hinter uns. Währenddessen hat die Digitalisierung das Arbeitsleben der Tischler*innen nachhaltig verändert.

Das Datum des 20. März 1946, an welchem unser Fachmagazin, damals unter dem Namen “Der Tischler”, erstmalig erschien, war wahrlich kein Tag der Freude. In Nürnberg wurden deutsche und österreichische Machthaber des NS-Regimes in der sechsundachtzigsten Verhandlung vor Gericht gestellt, und in Wien protestierte die Arbeiterschaft gegen die anhaltende Hungersnot. Die Ressourcenknappheit stellte eines der dominierenden Probleme der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland als auch der Republik Österreichs dar. Während das Handwerk mit Lieferengpässen kämpfte, litt die Tischlerbranche vor allem unter Holzmangel. Durch das Wirtschaftswunder der 1950er- und 1960er-Jahre vollzog sich jedoch auch im anfänglich schwächelnden Handwerk eine ungeahnte Hochkonjunktur. Dank des sogenannten Marshallplans, einer länderübergreifenden Aufbauhilfe der USA, konnte das Bruttoinlandsprodukt in kürzester Zeit nahezu verdoppelt werden, sodass in den 1960er-Jahren im Handwerk zeitweise die Vollbeschäftigung erreicht wurde. Es war die Zeit der unbegrenzten Möglichkeiten: Mondlandung, Mini-Rock und die Hippie-Bewegung stellten nicht nur die alte Ordnung auf den Kopf, sondern schlugen sich ebenfalls in farbenfrohen, teils futuristisch anmutenden Möbeldesigns nieder. Plastik- und Ikeamöbel zogen in die Wohnzimmer ein – und auch die damaligen Handwerker begonnen, mit neuen Werkstoffen zu experimentieren. Dies zeigt, dass Handwerksgeschichte immer auch ein Stück Kulturgeschichte ist. Trotz einer kontinuierlich guten Auftragslage blieben insbesondere im Tischlerhandwerk immer mehr Lehrstellen unbesetzt – der Anfang eines chronischen Fachkräftemangels, welcher sämtliche Branchen des Handwerks noch viele Jahrzehnte beschäftigen sollte. In den Siebzigerjahren erreichte die erste digitale Welle das europäische Festland, wodurch die EDV auch in den Tischlerbetrieben einzog. Utopien einer vollautomatisierten Welt tauchten auf – das Schreckensszenario eines jeden Tischlers. Wenngleich jene neuen Technologien das traditionelle Handwerk nachhaltig verändert haben, so dominiert in den Werkstätten bis heute echte Handarbeit, die von den Tischlern oft mit großer Leidenschaft ausgeführt wird. Somit zeigt die Geschichte des Handwerks, dass sich Qualität noch immer durchgesetzt hat. Der digitale Wandel schlug sich jedenfalls auch im Layout unseres Magazins wieder: Mit der Namensänderung in „Tischler Journal“ Ende der Neunzigerjahre erschien das Heft auch grafisch in einem neuen Kleid mit neuem Layout und neuem Logo. Somit war und ist das Tischler Journal auch immer ein Abbild unserer Geschichte. In diesem Sinne feiern wir mit Stolz unseren 75. Geburtstag.

© Tischler Jorunal
Nach den Schrecken des Krieges setzte im österreichischen Handwerk ein rasanter Wirtschaftsaufschwung ein: “Wohlstand für alle” – so der Slogan des neuen gesellschaftspolitischen Leitbilds. Im Zuge jener Entwicklung setzte auch in den Tischlerbetrieben eine ungeahnte Hochkonjunktur ein, welche insbesondere von einer steigenden Nachfrage an Einbaumöbeln getragen wurde, wie die damaligen Ausgaben des Tischler Journals bezeugen. Beinahe jeder Haushalt verfügte nun über einen obligatorischen Einbauschrank mit integrierter TV-Nische. Im Möbeldesign ermöglichten neue Kunststoffe die Herstellung von günstigen sowie farbenfrohen Objekten, das Retro-Design zog mit schwungvollen Mustern in die Wohnzimmer ein und niedrigpreisige Möbel aus Spanplatten wurden zum neuen „Must-have“ der Masse. Spätestens ab den 1970er-Jahren setzte in den Handwerksberufen eine erste Rationalisierungswelle ein, wobei nicht nur neue und vor allem preiswertere Werkstoffe den Ertrag der Betriebe steigern sollten, sondern auch eine Optimierung der betriebsinternen Abläufe im Handwerk vorgenommen wurde.

© Tischler Journal
Die 2000er Jahre waren das Jahrzehnt der Touchscreens und rollbarer sowie multifunktional nutzbarer Möbel. Es war jedoch auch das Jahrzehnt des Euro, wobei sich nach einer vorübergehenden Inflation die Rohstoffpreise bald wieder normalisierten. Unabhängig davon führte der Strukturwandel dazu, dass im Handwerk der kunden- und objektspezifische Möbel- und Innenausbau verstärkt in den Vordergrund rückte. Im Möbeldesign wurde der Individualismus zum neuen Maßstab, woraufhin eine zunehmende Spezialisierung sowie Digitalisierung der handwerklichen Branche stattfand. Des Weiteren galt es auf die wachsende Konkurrenz aus der Industrie zu reagieren, welche dem Handwerk zunehmend Marktanteile abgriffen. Heuer haben die Tischlerbetriebe wieder ein sattes Plus zu verzeichnen – wenngleich die Pandemie ihre Schatten noch immer weit vorauswirft und der krisenbedingte Rohstoffmangel viele Lieferengpässe verursacht. Nichtsdestotrotz sind die Zukunftsaussichten für das Tischlerhandwerk gut – dank der Nachhaltigkeits-Debatte erfährt die jahrhundertealte Kultur des Handwerks und der Werkstoff Holz einen nie da gewesenen Höhenflug. So ist etwa die Vorstellung von hölzernen Hochhäusern nicht mehr nur bloße Fantasie, sondern bald schon greifbare Realität. Daher erfreut sich der traditionelle Beruf des Tischlers und das Holz als Werkstoff und Gestaltungsmittel einer immer größeren Beliebtheit – darüber hinaus werden Innovationen des Handwerks, wie etwa die Holztechnologie, immer weiter vorangetrieben, sodass das Material schon heute zu den Hightech-Rohstoffen der Zukunft gezählt werden kann.