Eisenbeton – ein Baustoff schreibt Stadtgeschichte
Eisenbeton ist der Baustoff, der die Stadt seit Ende des 19. Jahrhunderts im Innersten zusammenhält. Über den Aufstieg eines Materials erzählt die Ausstellung „Eisenbeton“ im Wien Museum. Wir haben mit den Kurator*innen Eva-Maria Orosz und Andreas Nierhaus gesprochen. >> MIT PODCAST

Wien um 1900 wird häufig mit Kunst, Kultur und Architektur verbunden. Doch im Verborgenen vollzog sich damals eine entscheidende technologische Revolution: Der Baustoff Eisenbeton hielt Einzug und veränderte das Gesicht der Stadt nachhaltig. Im Wien Museum widmet sich derzeit (und noch bis 28. September) die Ausstellung „Eisenbeton“ diesem Material und seiner Bedeutung für die Stadtentwicklung. Die Kurator*innen Eva-Maria Orosz und Andreas Nierhaus erläutern im Gespräch, warum dieser Baustoff zu Recht als tragende Säule der modernen Großstadt gilt.
Architektur und Bau FORUM: Als Erfinder von Eisen- bzw. später Stahlbeton gilt der französische Ingenieur Joseph Monier. Er entwickelte als Gärtner einen Pflanzenkübel, in den er ein Stahldrahtgerüst aus Beton einließ. Diese Erfindung meldete er als sein erstes Patent an. Wie gelang der Siegeszug dieses neuen Materials?

Andreas Nierhaus: Der Ursprung von Eisenbeton liegt in Frankreich, in einem Garten. Der Gärtner Joseph Monier hat sich Gedanken gemacht, wie man das schnell verrottende Holz der Kübel und Pflanztröge durch ein dauerhaftes Material ersetzen kann. Es ist kein Zufall, dass aus dem Garten einer der wichtigsten Baustoffe der Moderne kommt. Manche Erzählungen führen die moderne Architektur auf den Londoner Kristallpalast zurück, der ebenfalls von einem Gärtner, Joseph Paxton, errichtet wurde.
Monier hat das Holz durch Eisen ersetzt und mit dem haltbaren Baustoff Zement umhüllt. Solche Tröge, aber auch Boote waren mit die ersten Eisenbetonobjekte. Das erste Eisenbetongebäude in Deutschland war eine Hundehütte: ein deutscher Eisenbetonpionier, Conrad Freytag, dessen Firma auch in Österreich eine Rolle gespielt hat, baute sie, um in Miniaturform zu erproben, wie diese Verbindung von Eisen und Portland-Zement funktioniert. Das war 1884. Zu dieser Zeit verbreiteten sich Informationen sehr rasch über Zeitschriften und internationalen Austausch, und innerhalb kürzester Zeit trat das robuste neue Material einen Siegeszug ohnegleichen an.
Warum spricht man einerseits von Eisenbeton und andererseits von Stahlbeton?
Andreas Nierhaus: Man hat 1924 für den deutschsprachigen Raum beschlossen, von Stahlbeton zu sprechen, was mit der Entwicklung der modernen Stahlproduktion zu tun hat. Mitte, Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte man erstmals Verfahren, die hochwertiges, dichtes, strapazierfähiges Material wie den Bessemer Stahl erzeugten. Deshalb sprechen wir heute von Stahlbeton. Nur für die historische Pionierphase, die mit dem Ersten Weltkrieg endete, wird der Begriff Eisenbeton verwendet.

1911, Privatsammlung, Foto: TimTom, Wien Museum
Was waren die ersten Gebäude in Wien, die damit errichtet wurden?
Andreas Nierhaus: Es waren vor allem unterirdische Bauten, wie Infrastrukturanlagen für die Kanalisation, die Stadtbahn und die Regulierung des Wienflusses. Diese im Stadtbild kaum sichtbaren Gebäude waren für das Wachstum der Großstadt von entscheidender Bedeutung.
So wurde ein Meilenstein für die Infrastruktur gesetzt. Welche Konsequenzen ergaben sich für den Städtebau?
Eva-Maria Orosz: Für den Städtebau ist Eisenbeton der Baustoff des 20. Jahrhunderts. Die große Belastbarkeit des Materials schuf die Voraussetzung dafür, in den Städten verdichtet und in die Höhe zu bauen. Die frühen Eisenbetonbauten im innerstädtischen Bereich entstanden in Wien auf kleinen Bauparzellen, wo die maximale Ausnutzung der Parzelle erwirtschaftet werden musste.
Dadurch, dass man weiter in die Höhe bauen konnte?
Eva-Maria Orosz: Einerseits konnte man in die Höhe bauen, zudem im Keller mit Tragwerken die Räume nutzbar machen. Das war für eine Großstadt ein richtiger Booster. Man schuf in den Untergeschossen öffentliche Räume, Theater, Kinos und Restaurants.

Meist assoziiert man Wien um 1900 Zeit mit Kunst, aber die Ausstellung geht der These nach, dass eigentlich diese Eisenbeton-Konstruktionen, Gebäude und Infrastruktur die Voraussetzung für die kulturellen Entwicklungen waren.
Eva-Maria Orosz: Die Struktur der Eisenbetonbauten und ihre architektonischen Möglichkeiten boten der Stadt neue öffentliche Räume. Wohn- und Geschäftshäuser öffneten sich mit riesigen Fenstern zum Straßenraum, für Geschäfte und Lokale. Die Architektur schuf Sphären, in der sich das großstädtische Leben entfalten konnte.
Inwiefern prägen diese Eisenbeton-Bauten das urbane Leben von der Anmutung her?
Andreas Nierhaus: Es gibt Wechselwirkungen zwischen den technischen Möglichkeiten und dem Bedürfnis, durch Transparenz in der Architektur große, weite Räume zu schaffen. Seit dem frühen 19. Jahrhundert diskutierte man: Wie können wir die Wand zum Verschwinden bringen? Wie können wir diese massiven Mauern auflösen? Das versuchte man schon in der Biedermeier-Zeit mit neuen Bautechniken, es gelang nur zum Teil. Gusseisen wurde eingesetzt, es gab eiserne Häuser, die komplett transparent waren. Dieses Bedürfnis konnte dann um 1900 erstmals gestillt werden: Die neue Technologie verband die Zugkräfte des Eisens mit der Belastbarkeit, mit den Druckkräften des Betons und ermöglichte überhaupt erst diese Spannweiten.
Eva-Maria Orosz: Der Eisenbetonbau hat gegenüber dem Eisenbau zwei große Vorteile: Er ist feuerfest und korrodiert nicht, das sind u. a. Gründe für seinen fulminanten Siegeszugs. Wir kennen um 1900 Entwürfe und Kalkulationen für die Ausführung eines Projekts in beiden Bauweisen – und man entschloss sich, in Eisenbeton zu bauen. Beide Bautechniken waren ungefähr gleich teuer, doch der Eisenbetonbau eindeutig nachhaltiger.

Museum, Foto: kunstdokumentation.com, Wien Museum
In der Ausstellung geht es um prominente Gebäude, aber auch um unbekannte. Welche wären das?
Eva-Maria Orosz: An Beginn der Neubaugasse entstanden eine ganze Reihe von Eisenbetonbauten, die weitgehend unbekannt waren, beginnend mit Neubaugasse 2. Kaum jemand weiß, dass das Haus zum Herrnhuter am Neuen Markt ein früherer Eisenbetonbau ist. Das Loos-Haus kennt man wegen der Debatte um seine Fassade. Dahinter verbirgt sich aber eine herausragende Eisenbetonstruktur.
Andreas Nierhaus: Ergänzend kann man Gebäude nennen, die aus dem Stadtbild verschwunden sind, die von einer großstädtischen Anmutung sind, die wir heute in dieser Dimension nicht mehr kennen. Berühmt etwa das Dianabad am Donaukanal, das erst in den 1960er Jahren abgerissen wurde, ein fantastischer Eisenbetonbau, der mitten im Ersten Weltkrieg unter großem finanziellen Druck fertiggestellt wurde. Der Krieg bedeutete das Ende aller Bautätigkeit, weil alle Kräfte an der Front und in der Kriegswirtschaft gebunden waren.
Die Gestaltungsfreiheit und die Dimensionen waren viel größer als vorher. Auch internationale Beispiele sind in der Ausstellung dabei.
Andreas Nierhaus: In allen großen Städten Europas entstanden um 1900 Eisenbetonbauten, ob in Berlin, Rom, Turin oder Paris. Das Spezifikum der Wiener Eisenbetonbauten haben Otto Kapfinger und sein Team in ihrem Forschungsprojekt herausgearbeitet. Es ist eine Gemengelage zwischen Auftraggebern, Architekten und Ingenieuren, Baufirmen, die gemeinsam an der Innovation dieser Bautechnik, für den spezifischen Bedarf in Wien, gearbeitet haben.
Die bauliche Situation ist von der ökonomischen nie zu trennen: Wie viel muss man aus einer Parzelle herausholen können, wenn man sie neu bebaut im Verhältnis zum Vorgängergebäude? Schon damals lastete auf den Baustellen in der Inneren Stadt, aber auch etwa im 7. Bezirk, enormer ökonomischer Druck. Seit dem 18. Jahrhundert ging es um maximale Ausnutzung. Schon in der Barockzeit gab es achtgeschossige Häuser in Wien, damals die höchsten Häuser in Mitteleuropa. Mit dem Eisenbeton erweiterten sich die Dimensionen, sodass man kurz vor dem Ersten Weltkrieg schon die Fantasien entwickelte, hier bald Hochhäuser zu bauen.

Wien Museum
Eva-Maria Orosz: Die Wiener Innenstadt setzte um 1900 einen Wandel fort und entwickelte sich weg von einem Wohn- zu einem Geschäftsbezirk, die Grundstückspreise waren sehr hoch und die Bauparzellen oft nur klein. Da es zu amtlich verordnete Straßen-Verbreiterungen kamen, wurden Bauparzellen verschmälert, sodass gelegentlich Baugründe entstanden, die nur eine Gebäudetiefe von 6,5 oder 7 Metern hatten. Äußerste Präzision und Ökonomie in der Planung waren notwendig, man musste förmlich die neue Eisenbetontechnologie anwenden. In herkömmlicher Ziegelbauweise hätte man kein rentables Gebäude errichten können. Aus diesen Gründen baute man das eine oder andere Theater im Untergeschoss, um durch Vermietung weitere Mieteinnahmen zu lukrieren.
Andreas Nierhaus: Um 1900 wurde gerade in Wien in manchen Bereichen die Architektur völlig neu gedacht, mit Otto Wagner, Adolf Loos, Josef Hoffmann und anderen. Es gibt nur wenige Fälle – ich denke in Paris an Auguste Perret, der ein großer Eisenbeton-Pionier und Konstrukteur war – wo diese Ambition einer neuen Architektur mit einer neuen Konstruktion so eng verbunden wurde, wie es in Wien der Fall war.
Eva-Maria Orosz: Man erforschte auf eigenen Probebaustellen, ob man mit Ziegelmauer oder mit Eisenbeton bessere Ergebnisse erzielt. Die Ergebnisse dieser Belastungstests wurden sofort in die Praxis umgesetzt. Die Technologie wurde perfektioniert.
Sie erwähnten, dass damals die Städte theoretisch anders entworfen wurden, als man es sich heute vorstellen kann. Wie sähe die Stadt aus, die damals geplant war?
Andreas Nierhaus: In gewisser Weise ist uns ein großstädtisches Bauen wie bei den Eisenbetonbauten verloren gegangen. In den letzten Jahrzehnten wurde aus klaren Gründen der Wohnbau am Rand der Stadt forciert. Man kann in den Innenbezirken nicht mehr viele Änderungen durchführen. Aber wenn etwas Neues gebaut wird, würde man sich wünschen, dass es mit ähnlicher Sorgfalt und Präzision und einem ähnlichen Nachhaltigkeitsdenken in Angriff genommen würde wie schon vor 130 Jahren. Denn diese Bauten stehen heute noch, haben sich bewährt und sind für die verschiedensten Nutzungen einsetzbar. Das zeigt die Qualität dieser Architektur.

(“Opus=IV”), Halle, Perspektive, 1912, Foto: Birgit und Peter Kainz, Wien Museum
Eva-Maria Orosz: Die frühen Eisenbetonbauten werden von der Kreativszene und von Personen geliebt, die flexibel nutzbare, große offene Räume wollen, ob für private Zwecke oder Großraumbüros.
Andreas Nierhaus: Darauf wollen wir in der Ausstellung hinweisen. Wien um 1900 und der Eisenbetonbau, das ist keine Stilfrage, es ist eine Frage der inneren Struktur. Die Fassade ist davon unabhängig, sie kann so oder so aussehen.
Eisenbeton. Anatomie einer Metropole
Ort: Wien Museum, Karlsplatz 8, 1040 Wien
Dauer: 22. Mai – 28. September 2025
Kurator*innen: Eva-Maria Orosz, Andreas Nierhaus
Öffnungszeiten: Täglich 9:00–18:00 Uhr
Eintritt: Regulär, Ermäßigungen verfügbar; freier Eintritt an jedem ersten Sonntag im Monat
Website: wienmuseum.at/eisenbeton_anatomie_einer_metropole