ÖNorm EN 12150-1: Vieles ist möglich, nicht alles erlaubt

ÖNorm
11.03.2016

 
Auch wenn sich thermisch vorgespanntes Glas bearbeiten lässt, entspricht dies nicht den gültigen Regeln, da hierbei die Festigkeit der Scheibe gemindert wird. Die überarbeitete, am 1. Dezember 2015 neu erschienene ÖNorm EN 12150-1 stellt das deutlicher klarer als bisher.

Text: Bernd-Ulrich Deutschendorf, Thomas Fiedler, Reinhard Gruber 

Zur Erinnerung: In der ÖNorm EN 12150-1:2000-12 gibt es lediglich unter Abschnitt 7.1 eine Warnung, dass thermisch vorgespanntes Kalknatron-Einscheibensicherheitsglas (ESG) nach dem Vorspannen nicht mehr geschnitten, gesägt, gebohrt oder kantenbearbeitet werden sollte. Die seit Dezember 2015 in Kraft getretene Revision der ÖNorm EN 12150-1, stellt dies klar: „Thermisch vorgespanntes Kalknatron-Einscheiben-Sicherheitsglas darf nach dem Vorspannen nicht mehr geschnitten, gesägt, gebohrt, kantenbearbeitet werden, da ein erhöhtes Bruchrisiko gegeben ist oder das Glas sofort zerstört werden kann. Nach dem Vorspannen oberflächenbearbeitete (z. B. durch Sandstrahlen oder Säureätzung) Gläser werden in dieser Europäischen Norm nicht behandelt.“ Damit sind solche Gläser nicht mehr regelkonform.Hintergrund: In der Vergangenheit wurden immer wieder billige Massenprodukte an vorgespannten Gläsern angeboten, deren Oberfläche oder Innenstruktur nachträglich durch Sandstrahlen oder Lasern verändert wurde. Durch diese nachträglichen Bearbeitungen fällt derartiges Glas nunmehr aus der Normung. Das hat wiederum zur Folge, dass der Hersteller oder „Veredler“ dieser Produkte keine Konformität (CE-Zeichen, Ü-Zeichen) mehr bestätigen kann. Damit dürfen diese Gläser in der Europäischen Union nicht mehr in Verkehr gebracht werden, sofern sie für Bauteile im Sinne der Landesbauordnungen vorgesehen sind. Mit diesem Beitrag soll belegt werden, dass diese Abgrenzung in der Norm notwendig ist. Um die Vorgänge zu verstehen, muss man sich die Spannungszustände an unbelasteten und belasteten vorgespannten Gläsern vor Augen führen.

Glas unter Spannung

Darum darf vorgespanntes Glas nicht mehr bearbeitet werden: Die theoretische Festigkeit von Glas liegt deutlich über der in der Praxis erreichbaren Festigkeit. Grund dafür sind im Wesentlichen mikroskopisch kleine Beschädigungen (Mikrokerben) der Glasoberfläche, die immer vorhanden sind. Glas als spröder Werkstoff bricht unter Last ohne nennenswerte plastische Verformung. Unter Zug vergrößern sich die Mikrokerben und verringern so den effektiven Querschnitt, der das Glasgefüge zusammenhält und der Zuglast entgegenwirkt. Daher kann Glas in etwa mit der zehnfachen Last auf Druck gegenüber einer Zuglast beansprucht werden. Bei Bauteilen aus Glas sind stets die Zugspannungen bruchauslösend. Durch Vorspannen von Glas macht man sich die unterschiedliche Belastbarkeit gegenüber Zug- und Drucklasten zunutze. Bei der Herstellung von Einscheibensicherheitsglas werden durch den thermischen Prozess an den Glasoberflächen Druckspannungen eingeprägt. Damit das Glas im Spannungsgleichgewicht bleibt, entstehen in der Kernzone (im Inneren der Scheibe) Zugspannungen, deren Summe dem Betrag aller Druckspannungen an den Glasoberflächen entspricht. Nachdem in der Kernzone keine Beschädigungen vorliegen und bei sachgerechter Behandlung nach dem Vorspannen auch nicht entstehen können, führen die Zugspannungen dort nicht zum Bruch.

Bruchauslösung bei ESG

Bei Belastung eines Tragwerks entstehen auf einer Seite Zugspanngen und auf der gegenüberliegenden Seite Druckspannungen, deren addierte Beträge wiederum identisch sind. Bei dem „Tragwerk“ aus ESG werden dabei zunächst die Druckspannungen auf der „Zug-Seite“ mit zunehmender Last so lange reduziert, bis sie vollständig abgebaut sind. Erst eine weitere Steigerung der Last bewirkt resultierende Zugspannungen an der Glasoberfläche, die bei entsprechender Höhe zum Bruch der ESG-Scheibe führen. Im Gegensatz zu spannungsfreien Gläsern kommen bei ESG auch Inhomogenität über den Querschnitt, etwa durch Einschlüsse oder Blasen in Glasmasse als Bruchursache in Frage. Jede nachträgliche Bearbeitung von ESG an den Glasoberflächen, wie auch Bearbeitungen der Glasmasse mittels Laser, führen zwangsläufig zur Veränderung der gleichförmigen Spannungsverteilung. Auch wenn das ESG trotz Bearbeitung im Spannungsgleichgewicht bleibt, wird die Tragfähigkeit möglicherweise negativ beeinflusst. Die Belastbarkeit durch die für den Nutzungszweck vorgesehenen Einwirkungen ist nicht mehr planbar. Aus diesem Grund ist die Neufassung der ÖNorm EN 12150-1 so zu verstehen, dass sowohl ESG, das nachträglich mittels Laser bearbeitet wurde, als auch ESG mit nachträglicher Sandstrahlung und Säureätzung, keine geregelten Bauprodukte sind.

Vorsicht: verzögerter Bruch

Nachträgliche Bearbeitungen mit geringer Tiefe an den ESG-Kanten führen erfahrungsgemäß nicht sofort zum Bruch des Glases, da weder der Querschnitt des Glases verändert noch die Glasoberfläche geschädigt wird. Abplatzungen der Glaskanten während der Nutzung (z. B. an Glastüren) sind ein Beispiel hierfür. Jedoch sollte der Verarbeiter auch diese Art der nachträglichen Bearbeitung vermeiden, denn schon kleinste zusätzliche Beschädigungen können unmittelbar zum Bruch führen. Achtung: Vor dem Einbau sind vorgespannte Gläser auf eventuelle Kantenverletzungen zu prüfen. Scheiben mit Kantenverletzungen, die tiefer als zehn Prozent der Scheibendicke sind, dürfen nicht eingebaut werden (siehe ÖNorm B 3716-1:2015, Abschnitt 10.2). 
Alle Bearbeitungen des Basisglases vor dem Vorspannen, wie z. B. Schleifen, Sandstrahlen, Ätzen oder Lasern, verändern seine charakteristischen Festigkeitswerte. Derartige Bearbeitungen führen meistens zur Vor- bzw. Mikroschädigung in der Glasoberfläche oder Fehlstellen in der Masse, woraus sich die Reduzierung der Festigkeitswerte ergibt. Diese Bearbeitungen vor dem Vorspannen sind in der ÖNorm EN 12150-1 nicht ausdrücklich ausgenommen. Der Hinweis in der ÖNorm EN 12150-1, dass im Anschluss an das Vorspannen oberflächenbearbeitete Gläser nicht geregelt sind, lässt den Umkehrschluss zu, dass derartige Bearbeitungen vor dem Vorspannen unter die Norm fallen und damit erlaubt sind. Jedoch muss der ESG-Hersteller nach ÖNorm EN 12150-2 die Konformität zur Norm deklarieren. Mit der Leistungserklärung, dem CE-Zeichen sowie in Deutschland zusätzlich mit dem Ü-Zeichen, bestätigt er zudem, dass die Mindestwerte der mechanischen Festigkeit nach Tabelle 11 der ÖNorm EN 12150-1 eingehalten werden.

So sieht der Nachweis aus.

Um zu belastbaren Werten zu gelangen, muss der Hersteller die geforderten und deklarierten Festigkeitswerte an den bearbeiten Gläsern nach den Prüfkriterien der ÖNorm EN 1288-3 im Vierschneiden-Verfahren nachweisen.
Dabei müssen mindestens zehn Prüfscheiben aus thermisch vorgespanntem Kalknatron-Einscheibensicherheitsglas geprüft werden. Die an der Untergrenze des Vertrauensbereiches von 95 Prozent statistisch bewertete fünfprozentige Bruchwahrscheinlichkeit darf die in Tabelle 11 angegebenen Werte nicht unterschreiten.
Die Brucheigenschaften von ESG nach  ÖNorm EN 12150-1 stehen zudem im direkten Zusammenhang mit dem Maß der eingeprägten Oberflächendruckspannung. Die Scheiben sind deshalb so vorzuspannen, damit gewährleistet ist, dass Scheiben in jeder hergestellten Abmessung das in dieser Norm für Prüfscheiben definierte Bruchbild aufweisen.

Nachträgliches Beschichten 

Achtung: vollflächig applizierte Folien ausgenommen, da sonst die Sicherheitseigenschaften des ESG nicht mehr gegeben sind!
Beschichtungen, die nach dem Vorspannen aufgebracht werden, wie Funktionsschichten für den Sonnen- und Wärmeschutz oder organische Farbaufträge auf der Glasoberfläche, haben hingegen keinen Einfluss auf die Festigkeitswerte.
Bei der Glasbemessung von emaillierten Gläsern ist die charakteristische Biegezugfestigkeit auf der Zugspannungsseite unter planmäßiger Einwirkung in geringerer Höhe anzusetzen. 
Das Gleiche gilt sinngemäß für zu ESG vorgespannte Ornamentgläser. Diese Werte sind hinreichend oft nachgewiesen und in der Norm in Tabelle 11 berücksichtigt.

Auch Monteure sind in der Pflicht.

Auf den bauausführenden Handwerker kommt die besondere Verantwortung zu, dass er für die Gebrauchstauglichkeit seiner Konstruktion sowohl nach dem Bauordnungsrecht, wie auch strafrechtlich haftet. 
Er ist daher gut beraten, für die Lieferung seiner ESG-Scheiben einen verlässlichen Partner zu wählen, von dem er alle geforderten Belege und Nachweise für die Bauabnahme oder zur Vorlage an die marktüberwachende Behörde erhält. Ob jeder Importeur, der im Sinne der Europäischen Bauproduktenverordnung in die Rolle des Herstellers schlüpft, diese Voraussetzung erfüllt oder im Bedarfsfall noch greifbar ist, bleibt dabei zu hinterfragen.

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