Gesellschaftspolitik als Raummodell

Gebäudeplanung
16.08.2018

 
VERBORGENE SCHÄTZE: TIROL „Schulbau hat mutvoll, zukunftsweisend und lebendig zu sein.“ (Josef Lackner) Im Jahr 1965 formulierte Friedrich Achleitner in seinem Artikel „Schlusslicht im Schulbau. Neues Bauen kritisch betrachtet: Tiroler Schulen“ folgende Einschätzung: „In fast allen Bundesländern, vor allem in Vorarlberg, Salzburg und Oberösterreich, gibt es Beispiele, die nicht nur den Vorurteilen einer verknappten ‚Blut- und Bodenarchitektur‘ erwachsen sind, sondern auch einen Anschluss an die echten Schulbauprobleme unserer Zeit gefunden haben. In Tirol gibt es keine solchen Beispiele, nicht etwa, weil man keine fähigen Architekten zur Verfügung haben würde, sondern weil man glaubt, man könne die für eine relativ kurze historische Zeit und für einen kleinen baulichen Bereich geltenden architektonischen Details, also kurz die Attribute des Tiroler Bauernhauses, für alle Zukunft und für alle Bauaufgaben als verbindlich erklären. Dass dieser Weg in ein Chaos führt, das sieht man nicht nur in Tirol, sondern in ganz Österreich.“ von Arno Ritter
Realgymnasium der Ursulinen in Innsbruck
Realgymnasium der Ursulinen in Innsbruck

Betrachtet man retrospektiv die Architektur der 1970er Jahre in Tirol, so stechen einige Schulen aus der weitgehend pragmatischen Masse an Bauten hervor, die sowohl konzeptionell wie architektonisch innovativ waren, heute noch funktionale wie pädagogische Gültigkeit haben und wahrscheinlich auch deshalb weitgehend erhalten sind. Was ist aber zwischen der Kritik von Achleitner am Schulbau der 1960er Jahre in Tirol und der regen Bautätigkeit der 1970er Jahre passiert? 

Raumpädagogische Überlegungen
Ein auslösendes Moment war 1962 das österreichische Schulorganisationsgesetz, das einerseits die allgemeine Schulpflicht auf neun Jahre verlängerte und andererseits die Klassenhöchstzahl reduzierte. Zwei Jahre später wurde darüber hi­naus das Ziel formuliert, dass in jedem politischen Bezirk in Österreich eine zur Matura führende Schule zu bauen sei, um sowohl die sogenannte höhere Bildung flächenmäßig zu ermöglichen wie auch die einzelnen Regionen aufzuwerten. Um diese gesellschaftspolitische und egalitäre Forderung zu erfüllen, die sich in Pädagogik und Raum manifestieren sollte, vergab 1968 das Bundesministerium für Bauten und Technik einen Auftrag, technische Grundlagen für die wirtschaftlich vertretbare Errichtung von Schulen zu erarbeiten. Dieser wurde an die „Studiengemeinschaft Vorfertigung im Schulbau“ der Architekten Franz Kiener, Ferdinand Kitt, Fritz Gerhard Mayr, Herbert Thurner und Ottokar Uhl, in Zusammenarbeit mit dem Schulbauexperten Viktor Hufnagl, vergeben. Hufnagl hatte bereits Schulen in Strobl (1957–59), Bad Ischl (1959–63) und in Altmünster (1963–69) errichtet, die neue Maßstäbe setzten und den weitgehend in Österreich unbekannten Typus der Hallenschule einführten. Ausgehend von den Schulbauprogrammen in den USA und den pädagogischen Entwicklungen vor allem in den nordischen Ländern erarbeiteten die Architekten sowohl funktionale als auch wirtschaftliche und technische Parameter, die auf Überlegungen zur industriellen Vorfertigung aufbauten, gleichzeitig auch reformpädagogische Konzepte reflektierten und letztlich in die Wettbewerbskultur der damaligen Zeit einflossen. In relativ kurzen Abständen gingen – teilweise auf Basis dieser Studie – einige Schulen in Tirol aus Wettbewerben hervor, wie die Modellschule in Imst von Franz ­Kiener und Ferdinand Kitt (1969–73), das Bundesschulzentrum in Wörgl von Viktor Hufnagl und Fritz ­Gerhard Mayr (1970–73, 2001–2013 saniert und erweitert durch Peter Märkli und Gody Kühnis), die Volksschule Vomp von ­Günther ­Norer und Margarethe Heubacher-­Sentobe (1972–74, leider unsensibel saniert und umgebaut) und die Hauptschule St. Johann von Team A Graz ­(1972–79). All diese Schulen vereint die Haltung der Architekten, wonach um eine zentrale Halle ein offenes Raumkonzept angedockt wird – ursprünglich oft ohne oder mit flexiblen Wänden geplant. Als „dritter Pädagoge“ sollte diese fließende Raumidee gemeinschaftliches und experimentelles Lernen sowie Gruppenarbeit und vor allem Kommunikation ermöglichen, um damit ein anti-hierarchisches Schulsystem zu unterstützen. Nicht selten wurden diese raumpädagogischen Überlegungen entweder nicht vermittelt oder im schulischen Alltag nicht wirklich angenommen, was Günter 
Norer zu folgender Aussage veranlasste: „Im Schulbau war die Architektur theoretisch immer viel weiter, als das, was gebaut wurde.“

Räumliche Konzepte mit Modell­charakter
Fast gleichzeitig wie die oben genannten Projekte entstanden über Direktaufträge die Ursulinenschule von Josef Lackner in Innsbruck (1971–80) und das Schigymnasium Stams von Othmar Barth (1977–82), die beide kein klassisches Hallenschulkonzept verfolgten. Ungeachtet dessen sieht und spürt man aber in allen diesen Bauten, dass die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema Schule durch die Architekten und der Anspruch der Auftraggeber räumliche Konzepte hervorbrachte, die jenseits ihres Designs Modellcharakter haben. So publizierte das Team A Graz 1970, im Vorfeld der 6. Steirischen Landesausstellung mit dem Titel „Problem Bildung – Strukturen und Tendenzen“ von 1974 (!), das manifestartige Konzept „Planungsvorschläge zum Thema Gesamtschule“, das sich wie ein Statement in der aktuellen Schuldebatte liest. So forderten sie unter anderem – damals in Kleinbuchstaben: 
„förderung individueller fähigkeiten, leistungsdifferenzierung, individualisierung des unterrichts, eingehen auf differenziertes lernverhalten: problem­orientierter unterricht, neue unterrichtsmethoden, abgehen vom prinzip der jahrgangsklassen und des frontalunterrichts, team teaching, soziale rolle der schule, öffnung der schule zur gemeinschaft ...“.
Betrachtet man diese Formulierungen, die sicher zum Teil Grundlagen der damaligen Entwurfsprozesse waren, wundert man sich nicht, dass diese Schulen bis heute funktionieren und von der reformorientierten Pädagogik angenommen werden. Denn die Architektur ist das Produkt ihrer Zeit, aber wirkt über diese hinweg und sollte im Idealfall auf diese unplanbare Zukunft hin gedacht werden – auch heute.

Autor/in:
Arno Ritter

Branchen
Architektur