Interview & Podcast

Warum Lehm die Zukunft baut

17.11.2025

Jomo Zeil ist Teammitglied bei Lehm.Ton.Erde, einem international ausgezeichneten Büro mit Sitz in Schlins in Vorarlberg, das für die Renaissance des Lehmbaus auf höchstem Niveau steht. Wir haben mit ihm über dieses älteste Baumaterial der Menschheit gesprochen, das gleichzeitig eine der spannendsten Zukunftstechnologien im Bauen verspricht.

Lehm gehört zu den ältesten Baustoffen der Menschheit. Jahrtausendelang hat er Häuser geprägt, Gemeinschaften geschützt und Räume geschaffen – und doch fristet er heute im modernen Bauwesen ein Nischendasein. Warum eigentlich? Was spricht gegen einen Stoff, der lokal verfügbar, vollständig recycelbar und gesundheitlich unbedenklich ist? Und wie lässt sich die jahrtausendealte Bauweise mit den Ansprüchen an Effizienz, Ästhetik und Nachhaltigkeit von heute in Einklang bringen?
Im Gespräch mit Jomo Zeil, Architekt und Mitglied des innovativen Büros Lehm.Ton.Erde, wird deutlich: Der Lehmbau steht am Beginn einer Renaissance.

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Architektur & Bau FORUM: Lehm hat eine Jahrtausende alte Tradition im Bauen, findet aber in der modernen Bauweise kaum Anwendung. Woran liegt das?

Advertorial
Susanne Karr im Gespräch mit Jomo Zeil
Susanne Karr im Gespräch mit Jomo Zeil (C) ÖWV Stefan Böck

Jomo Zeil: Lehmbau gilt als „Krisenbauweise“. Immer dann, wenn Baumaterialien knapp wurden – in Nachkriegszeiten oder wirtschaftlich schwierigen Phasen – stieg das Interesse am Bauen mit lokalen Materialien. Vielleicht befinden wir uns heute in einer solchen Phase.
Was uns fehlt, um eine breitere Anwendung und Skalierung zu erreichen, sind Technologien für eine wirtschaftlichere Verarbeitung dieses natürlichen Materials. Gleichzeitig scheut unsere Gesellschaft zunehmend vor körperlicher, handwerklicher Arbeit zurück. Viele junge Menschen zieht es eher in digitale Berufe, entrückt vom tatsächlichen Tun mit den Händen.
Uns fehlen einerseits die handwerklichen Kompetenzen, andererseits die technischen Innovationen, um Lehm effizienter zu verarbeiten. Im Betonbau hat der Einsatz von Mischfahrzeugen und zentralen Betonwerken zu enormen Skalierungseffekten geführt. Im Holzbau haben CNC-Anlagen und industrielle Vorfertigung Ökonomie geschaffen. Das fehlt dem Lehmbau bislang weitgehend. Die Lobbyarbeit und der entsprechende Maschinenbau stecken in den Kinderschuhen.

Sie haben Projekte in unterschiedlichsten Maßstäben realisiert – von der kleinen Mochi-Theke in Kooperation mit KLK Architekten in Wien über die Vogelwarte in Semper in der Schweiz mit MLCD Architekten bis hin zum Abdul Aziz Center in Diriyah, Saudi-Arabien, gemeinsam mit Snøhetta. Diese Bandbreite zeigt, wie sich Lehmbau skalieren lässt. Bevor wir darauf weiter eingehen: Wie kam es eigentlich zum Namen Ihres Büros?
Lehm.Ton.Erde bringt unsere Philosophie auf den Punkt. Die drei Begriffe stehen für unsere Haltung: Lehm symbolisiert das Handwerkliche und die technologische Umsetzung. Ton verweist auf das Künstlerische, das Gestalterische und den architektonischen Ausdruck. Erde steht für Ökologie, Nachhaltigkeit und Verantwortung. So fassen wir emotional und moralisch unser Tun und unseren Teamgeist zusammen.
Die genannten Projekte zeigen die Machbarkeit unterschiedlicher Maßstäbe. Wir wagen viel, gehen Risiken ein, um das Thema voranzutreiben. Konkurrenz scheuen wir dabei nicht. Wir würden uns freuen, wenn es zum Beispiel in Wien weitere Lehmbaufirmen gäbe, die Projekte wie die Mochi-Theke realisieren könnten. Denn es sollte viel mehr mit Lehm gebaut werden.
Unsere internen technologischen Entwicklungen helfen uns, Projekte international umzusetzen. Dennoch stehen wir damit oft allein da und wünschen uns mehr politische und wirtschaftliche Unterstützung.

©Hanno Mackowitz

Es geht Ihnen darum, das Bewusstsein für Lehm als Baustoff insgesamt zu fördern. Wie kann das besser gelingen – gerade im Vergleich zu Holz, dessen technologische Entwicklung deutlich weiter ist?
Das Interesse am Bauen mit natürlichen Materialien wächst. Viele Menschen wollen gesünder bauen – sowohl im Sinne der Umwelt als auch hinsichtlich des Raumklimas. Holz ist da schon stärker präsent.
Um Lehm als Baustoff bekannter zu machen, muss man physisch erfahrbare Räume schaffen, Publikationen in Printmedien reichen nicht aus. Deshalb bieten wir bei uns im Werk viele Führungen an – bis zu 20.000 Besucherinnen im Jahr. Das hilft, das Thema weiterzutragen, auch über die Vermittlung von Planer*innen an Bauherr*innen.
Vor allem öffentlich zugängliche Räume wie Museen, Krankenhäuser, Kindergärten oder Schulen sind essenziell. Dort kann Lehm seine Wirkung auf einer unterbewussten Ebene entfalten. Eine Stampflehmwand im Wohnzimmer hat diesen Effekt nicht in gleichem Maße wie ein Lehmbau in einem Kindergarten, wo Kinder ganz selbstverständlich mit der Atmosphäre aufwachsen.

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©Hanno Mackowitz

Es geht um das Erlebnis. Mir fällt da das Museum für Urgeschichte (Mamuz) in Niederösterreich, ein – natürlich eher symbolisch. Dort sind Lehmgebäude nachgebaut, und man merkt schon beim Eintreten, wie angenehm die Atmosphäre ist. Bei Ihren Projekten geht es noch deutlich weiter: etwa im Ricola-Kräuterzentrum, in Kooperation mit Herzog & de Meuron. Wie kann Lehm dort ein ästhetisches Statement setzen, das modernen Ansprüchen gerecht wird?
Für Unternehmen wie Ricola in Laufen oder Alnatura in Darmstadt geht es darum, ihrePhilosophie architektonisch sichtbar zu machen – durch eine Fassade aus Erde. Damit wird Lehm an die exponierteste Stelle gesetzt, zur schützenden Haut eines Gebäudes. Das ist mehr als Symbolik: Es zeigt, dass diese Technologie mehr kann als dekorativ zu sein. Sie ist dauerhaft, bewitterbar, funktional – und zugleich Ausdruck einer Haltung.
Gleichzeitig geht es um Themen wie Vergänglichkeit und Erosion. Lehm trägt nicht die Perfektion in sich, die andere Baustoffe oft vorgaukeln. Und genau das macht ihn spannend. Moderne Architektursprache – geradlinig, klar – lässt sich damit wunderbar umsetzen, wie unsere Projekte zeigen. Und dennoch bleibt eine gewisse Natürlichkeit spürbar.
Ricola arbeitet mit Kräutern – mit natürlichen Essenzen. Diese Philosophie überträgt sich auf das Gebäude. Lehm ist ursprünglich, archaisch sogar – die älteste Massivbauweise überhaupt. Diese Kombination aus Ursprünglichkeit und moderner Umsetzung macht den besonderen Reiz aus.

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Bei den Projekten von Lehm Ton Erde wird das Aushubmaterial wiederverwendet – wie beim Ayurveda-Gästehaus „Rosana Waldhaus“ in Rosenheim, dass Martin Rauch mit Anna Heringer zusammen gestaltet hat. Dort ist vom „gesündesten Gebäude für Mensch und Planet“ die Rede. Was macht diesen Ansatz aus?

Lehm spricht eine urtypische Sensorik unseres Körpers an – er wirkt heilend, wie etwa Heilerde. Stampflehm reduziert Elektrosmog, reguliert Feuchtigkeit und trägt nachweislich zu einem gesunden Raumklima bei. Gerade beim Rosana-Gebäude war es Ziel, reine, natürliche Räume zu schaffen, die nicht versiegelt sind.
Lehmbauteile schaffen ein spürbar angenehmes Klima, ohne dabei auf künstliche Materialien zurückgreifen zu müssen. Unsere Haut nimmt diese Atmosphäre intensiver wahr, als wir es geistig verarbeiten können.
Menschen gehen schon mit einer gewissen Erwartungshaltung und Sensorik in ein ayurvedisches Kurzentrum hinein und spüren diese Räume unmittelbar.

Das spiegelt sich in Architektur und Umgebung wider. Im Vergleich zu Beton oder Ziegeln ist Lehm in der Herstellung deutlich CO₂-ärmer und vollständig recycelbar. Warum wird dieser Vorteil bislang so wenig in der Baupraxis genutzt?
Wir stehen tatsächlich kurz vor einer Veränderung. Das Interesse an natürlichen Baustoffen nimmt zu – gerade im Holzbau. Lehm eignet sich dabei hervorragend als Masse in Kombination um dem Holzbau bessere thermische Eigenschaften zu ermöglichen.
Der Engpass liegt in den hohen Lohnkosten und den zahlreichen handwerklichen Arbeitsschritten entlang der gesamten Wertschöpfungskette: vom Aushub über die Aufbereitung bis zum fertigen Lehmbauteil. Diese Prozesse sind bisher wenig industrialisiert.
Obwohl Lehm nahezu überall verfügbar und zu 100 % recyclebar ist, zudem lokale Wertschöpfung ermöglicht, wird er in ökonomischen Abwägungen, trotz aller Bereitschaft zu mehr Ökologie und Nachhaltigkeit, oft vom konventionellen Bauen mit Beton, Stahl oder Glas verdrängt. Dabei wären technologische Innovationen durchaus möglich. Doch wahrscheinlich werden wir auf den Mars fliegen, bevor der Lehmbau die richtigen technologischen Schritte erlebt.
Bei gezielter Förderung dieses Sektors könnten wir durch vergleichsweise einfache Technologien enorme CO₂-Einsparungen erreichen. Doch derzeit findet der technologische Fortschritt in anderen Bereichen statt.

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Würden konsequente Forschung und gezielte Förderung kreislauffähiger Baustoffe einen größeren Schritt in Richtung Klimaneutralität gerade am Bausektor bewirken?
Unbedingt. Gerade im Bereich des Aushubs gibt es enormes Potenzial. Wenn wir beispielsweise in Wien eine Tiefgarage bauen, fällt gewaltige Erdmasse an. Diese wird oft per Lkw bis nach Ungarn transportiert – ein ökologischer und wirtschaftlicher Wahnsinn. Dabei könnte dieses Material direkt vor Ort als Baumaterial dienen. Der Aushub und Transport taucht in der CO₂-Bilanzierung eines Gebäudes derzeit nicht einmal auf.
Wir müssten viel stärker auf regionale Wertschöpfung setzen. Man könnte mit dem Aushub problemlos Lärmschutzwände errichten, anstatt ihn zu deponieren. Lärmschutz, tendenziell bisher in Beton und Stahl, erzeugt eine riesige Baumasse. Hier könnte man im doppelten Sinne viel CO₂ einsparen, das einerseits beim Verfrachten von Aushub und andererseits bei der von Beton und Stahl-Produktion anfällt.

Im Umweltministerium wird gerade eine Verordnung vorbereitet, die das sogenannte „Abfallende“ für Bodenaushub rechtssicher und praktikabel definieren soll. Das könnte ein Schritt in die richtige Richtung sein.
Ein wichtiger Impuls, und der nächste Schritt wäre dann, den Erdbauunternehmen konkrete Alternativen für die Verwertung anzubieten – aus Aushubmaterial tatsächlich Baumaterial zu machen. Das wäre nicht nur ökologisch sinnvoll, sondern auch eine zusätzliche Wertschöpfung für die Betriebe.

Sie deuteten an, dass man so die regionale Baukultur stärken und sich unabhängiger von globalen Lieferketten machen könnte.
Allerdings ist das handwerkliche Wissen im Umgang mit Lehm schwierig aufzuholen. Es braucht Schulungsprogramme, Anerkennung von Berufsbildern und Förderung von Firmengründungen. Das ist ein langfristiger Prozess, der oft über Generationen geht.

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Könnten Sie die handwerklichen Schritte näher beschreiben?
Zunächst haben wir das Aushubmaterial – lose Gesteine, gemischt mit mineralischen Erden. Dieses muss zerkleinert, gesiebt und in ein gutes Gefüge gebracht werden. Das kann traditionell mit Schaufel und Pickel geschehen, ebenso mit modernen Maschinen: Radlader, Zwangsmischer, teils sogar bestehende Betonmischanlagen sind nutzbar.
Dann erfolgt die Verarbeitung zur Stampflehmmischung. Für Stampflehmwände wird eine Schalung aufgestellt, in die das Material schichtweise eingebracht und verdichtet wird. Anschließend wird ausgeschalt – daraus entstehen ganze Wandfluchten oder vorgefertigte Bauteile, ähnlich großen Duplo-Steinen.
Diese werden getrocknet, gelagert, transportiert und auf der Baustelle zusammengesetzt. Dort erfolgt das Verfugen, Bürsten der Oberfläche und ggf. ein Schutzauftrag. Alternativ erfolgt die Verarbeitung komplett vor Ort unter Witterungsschutz.

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Vieles davon klingt nach Prozessen, die sich industriell für eine modulare Bauweise vorfertigen ließen.
Absolut. Ein Teil der Arbeit lässt sich skalieren und automatisieren, was die Lohnkosten senkt. Kein Bausystem kommt ohne handwerkliche Arbeit aus – denken Sie an das Schleifen oder Imprägnieren von Holz. Wenn Stampflehm künftig vermehrt als Rohbau eingesetzt wird – eventuell mit Putz oder Farbanstrich –, reduziert sich der handwerkliche Anteil weiter.
Derzeit liegt der Fokus oft auf sichtbarer Perfektion – ähnlich dem ebenfalls handwerklich anspruchsvollen Sichtziegelmauerwerk. Doch wenn man den Stampflehm wie Ziegel einfach verputzt, wird er zur standardisierten Rohbauweise – mit großem Potenzial für industrielle Fertigung und Kostensenkung.

©Hanno Mackowitz
©Hanno Mackowitz

Welche politischen oder wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wären notwendig, um das im größeren Maßstab voranzubringen?
Eine ehrliche CO₂-Bilanzierung im Bauwesen wird ein großer Hebel sein. Der Betonbau bringt über alle Phasen hinweg enorme Emissionen mit sich – von der Herstellung bis zum Rückbau, aber immer noch arbeitet die Betonindustrie ungestört weiter.  Wenn CO₂ bilanziert wird, muss radikal anders gedacht werden. Dann stehen alternative Bauweisen wie Lehm plötzlich viel besser da.
Momentan zahlt niemand CO₂-Kompensation für seine Betongartenmauer. Für Flugreisen tun wir das schon freiwillig. Im Bauwesen müsste diese Logik ebenfalls greifen. Das würde den Markt verändern. Dafür braucht es politischen Willen, gesellschaftliche Bereitschaft und eine europäische Regelung.

Ich höre bei Ihnen einen vorsichtigen Optimismus heraus. Wenn Sie 20 bis 30 Jahre in die Zukunft blicken – wird Lehm ein selbstverständlicher Baustoff sein?
Jede*r, der einmal mit Lehm in Kontakt gekommen ist, wird dieses Erlebnis weitertragen. Die Zahl an Projekten mit Lehmputz oder Stampflehm steigt. Auch der Holzbau wächst und erkennt zunehmend den Wert thermischer Masse – ein Riesenvorteil des Lehms bei Klimaveränderungen.
Hybride Bauweisen aus Holz und Lehm könnten bald zum Standard werden – auch im sozialen Wohnbau. Mit lokaler Wertschöpfung, hoher Recyclingfähigkeit und besserer Wirtschaftlichkeit. Ich halte das für sehr realistisch – wenn wir politisch und wirtschaftlich die Weichen richtig stellen.

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Zur Person

©Hanno Mackowitz

Jomo Zeil ist seit 10 Jahren Teammitglied bei Lehm.Ton.Erde. Geboren in Botswana und aufgewachsen zwischen Holland, Afrika und Bayern, absolvierte er nach dem Abitur eine Tischlerlehre mit künstlerischem Schwerpunkt in Berchtesgaden in Deutschland. Es folgten ein Studium des Holzbaus und der Holztechnologie an der FH Salzburg sowie ein Architekturstudium an der Kunstuniversität Linz.