Rohstoffindustrie: Stahlkocher in Bedrängnis

Stahlindustrie
15.03.2020

 
Rohstoffpreise steigen, Nachfrage sinkt, und die CO2-Neutralität erfordert milliardenschwere Investitionen.
Der europäischen Stahlindustrie steht ein unsicheres Jahr bevor.
Der europäischen Stahlindustrie steht ein unsicheres Jahr bevor.

Der europäischen Stahlindustrie steht ein unsicheres Jahrzehnt bevor. Die Umstellung der Produktion von klimaschäd­licher Kohle auf emissionsfreien Wasserstoff verlangt den Herstellern milliardenschwere Investitionen in die neue Technologie ab. Gleichzeitig machen der Branche derzeit steigende Rohstoffkosten und eine heftige Industrierezession zu schaffen, die eine geringere Stahlnachfrage bedingt.
Der Klimaschutz und schmerzhafte Strukturanpassungen bedeuteten ­gewaltige Herausforderungen für Europas Stahl­industrie, analysierte das deutsche „Handels­blatt“. Ein Ende des Strukturwandels in der Autoindustrie, die zu den wichtigsten Kunden der Stahlhersteller zähle, sei nicht in Sicht. Dabei wären die anstehenden Investitionen in die CO₂-Neutralität, die laut ­Pariser Klimaabkommen bis 2050 geschafft werden muss, selbst in guten Zeiten schwer zu stemmen.
Die voestalpine will beispielsweise drei seiner fünf Hochöfen in Österreich durch Elektroöfen ersetzen und müsste dafür rund eine Milliarde investieren. Gegen 2030 könnte das „Hybrid-Stahlwerk“ Wirklichkeit sein. Im November 2019 startete am Konzernsitz in Linz der Testbetrieb einer Pilotanlage für eine Wasserstoff-Elektrolyse-Anlage zur CO₂-freien Stahlerzeugung. Im Rahmen des Forschungsprojekts („H2Future“) lotet der Stahlerzeuger gemeinsam mit dem Verbund-Konzern und Siemens Möglich­keiten aus, Koks und Kohle in der Produk­tion durch Wasserstoff zu ersetzen.
Laut „Handelsblatt“ sollen die 2020er Jahre jedenfalls ein Jahrzehnt der Entscheidungen für die europäische Stahlindus­trie werden. Experten rechnen daher mit ­einer weiteren Konsolidierung in der ­Branche. „Neben den Kostenvorteilen bei der Entwicklung klimaneutraler Technologien sprechen auch die immer noch bestehenden Überkapazitäten für Zusammenschlüsse“, zitiert die Zeitung die Beraterin Nicole Voigt von der Boston Consulting Group (BCG). Zu einer Strategie, diese Problematik anzugehen, gehöre „letztlich auch die Schließung von Standorten“.

Stellenabbau

Schon jetzt wackeln Tausende Jobs in der Branche. Die Stahlwerke sind nicht aus­reichend ausgelastet. Die europäischen ­Unternehmen produzieren schon seit ­vielen Jahren unter ihren Möglichkeiten. Der ­indisch-europäische Stahlriese Tata Steel will 3.000 Stellen in Großbritannien und den Niederlanden streichen, da das Europageschäft angesichts Brexit und Autokrise in die roten Zahlen gerutscht ist. Bei Thyssen­krupp sollen 2.000 Stellen im Kerngeschäft wegfallen, und die voestalpine kürzt in Deutschland 300 Arbeitsplätze.
Der Markt sei global immer noch sehr fragmentiert. Gemessen an der globalen Gesamtproduktion von rund 1,8 Mrd. Tonnen Stahl jährlich mache selbst die Produktion des weltgrößten Herstellers ArcelorMittal von rund 96 Millionen Tonnen pro Jahr nur einen Bruchteil (nämlich fünf Prozent) aus. Kein Unternehmen gilt als groß genug, um den tiefgreifenden Wandel zu CO₂-neutralen Produktionsverfahren allein zu stemmen: „Beim Klimaschutz stehen die europäischen Stahlhersteller vor Herausforderungen, ­denen kein Unternehmen allein ­gewachsen ist“, meint Branchenexperte Götz Erhardt vom ­Beratungsunternehmen Accenture.

Green Steel?

Der Umstieg auf Wasserstoff ist bisher der einzige Weg, mit dem sich die Stahlproduktion nahezu vollständig von ihren hohen CO₂-Emissionen befreien kann. Entscheidend für die Zukunft der Branche wird es sein, ob sich in den nächsten Jahrzehnten ein europäischer Markt für den – teureren – grünen Stahl entwickelt, etwa weil Autohersteller zukünftig nicht nur Produktion und Fahrzeuge, sondern die ­gesamte ­Lieferkette dekarbonisieren wollen. Der deutsche Autobauer Daimler beispiels­weise hat laut „Handelsblatt“ bereits ­signalisiert, ab 2039 völlig klimaneutral wirtschaften zu wollen.
„Es braucht passende politische ­Rahmenbedingungen, um die ­langfristige Wirtschaftlichkeit des Wasserstoff-Verfahrens zu gewährleisten“, so Erhardt. Die Stahlindustrie brauche mit Investitions­zyklen von mehreren Jahrzehnten einen langen Vorlauf, um sich auf neue Produktionsverfahren einzustellen. Die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in ihrem „Green New Deal“-­Programm jedenfalls die grüne Stahl­industrie als Zukunftsmarkt für die EU ­explizit erwähnt. 

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