Geschichte des Handwerks

75 Jahre Tischler Journal

Jubiläum
17.08.2021

Aktualisiert am 02.12.2021
Über sieben Jahrzehnte liegen hinter uns. Währenddessen hat die Digitalisierung das Arbeitsleben der Tischler*innen nachhaltig verändert.
Cover des Tischlermagazins mit Logo
Seit  75 Jahren zählt das Tischler Journal zu den führenden Leitmedien der österreichischen Baubranche.

Das Datum des 20. März 1946, an welchem unser Fachmagazin, damals unter dem Namen "Der Tischler", erstmalig  erschien, war wahrlich kein Tag der Freude. In Nürnberg wurden deutsche und österreichische Machthaber des NS-Regimes in der sechsundachtzigsten Verhandlung vor Gericht gestellt, und in Wien protestierte die Arbeiterschaft gegen die anhaltende Hungersnot. Die Ressourcenknappheit stellte eines der dominierenden Probleme der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland als auch der Republik Österreichs dar. Während das Handwerk mit Lieferengpässen kämpfte, litt die Tischlerbranche vor allem unter Holzmangel. Durch das Wirtschaftswunder der 1950er- und 1960er-Jahre vollzog sich jedoch auch im anfänglich schwächelnden Handwerk eine ungeahnte Hochkonjunktur. Dank des sogenannten Marshallplans, einer länderübergreifenden Aufbauhilfe der USA, konnte das Bruttoinlandsprodukt in kürzester Zeit nahezu verdoppelt werden, sodass in den 1960er-Jahren im Handwerk zeitweise die Vollbeschäftigung erreicht wurde. Es war die Zeit der unbegrenzten Möglichkeiten: Mondlandung, Mini-Rock und die Hippie-Bewegung stellten nicht nur die alte Ordnung auf den Kopf, sondern schlugen sich ebenfalls in farbenfrohen, teils futuristisch anmutenden Möbeldesigns nieder. Plastik- und Ikeamöbel zogen in die Wohnzimmer ein – und auch die damaligen Handwerker begonnen, mit neuen Werkstoffen zu experimentieren. Dies zeigt, dass Handwerksgeschichte immer auch ein Stück Kulturgeschichte ist. Trotz einer kontinuierlich guten Auftragslage blieben insbesondere im Tischlerhandwerk immer mehr Lehrstellen unbesetzt – der Anfang eines chronischen Fachkräftemangels, welcher sämtliche Branchen des Handwerks noch viele Jahrzehnte beschäftigen sollte. In den Siebzigerjahren erreichte die erste digitale Welle das europäische Festland, wodurch die EDV auch in den Tischlerbetrieben einzog. Utopien einer vollautomatisierten Welt tauchten auf – das Schreckensszenario eines jeden Tischlers. Wenngleich jene neuen Technologien das traditionelle Handwerk nachhaltig verändert haben, so dominiert in den Werkstätten bis heute echte Handarbeit, die von den Tischlern oft mit großer Leidenschaft ausgeführt wird. Somit zeigt die Geschichte des Handwerks, dass sich Qualität noch immer durchgesetzt hat. Der digitale Wandel schlug sich jedenfalls auch im Layout unseres Magazins wieder: Mit der Namensänderung in „Tischler Journal“ Ende der Neunzigerjahre erschien das Heft auch grafisch in einem neuen Kleid mit neuem Layout und neuem Logo. Somit war und ist das Tischler Journal auch immer ein Abbild unserer Geschichte. In diesem Sinne feiern wir mit Stolz unseren 75. Geburtstag.

Magazin-Ausschnitte des Tischler Journals aus den 50er Jahren.
Nach Ende des 2. Weltkrieges stand das Handwerk buchstäblich vor dem Nichts.

40er- bis 50er-Jahre: Unsichere Zeiten für das Handwerk

In den Jahren nach 1945, in der Geschichte auch als "Stunde Null" bekannt, standen die Betriebe wortwörtlich vor dem Nichts. Auch wenn sich die Lage der Betriebe im Zuge der Neuordnung des österreichischen Kammerwesens und der Gründung der Innungen erheblich verbesserte, waren die kriegsbedingten Spätfolgen aufgrund von fehlendem Kapital und beschränkten Absatzmärkten noch lange deutlich spürbar. Auch das am 20. März 1946 gegründete Tischler Journal blickte zunächst unsicheren Zeiten entgegen. Die Wende folgte Anfang der 1950er-Jahre: Die Ökonomie wurde nachhaltig gestärkt, wobei überdies dringend benötigte Absatzmärkte für expandierende Unternehmen geschaffen wurden. Auch das Tischlerhandwerk profitierte von jener wachstums­ortientierten Wirtschaftspolitik sowie von exponentiell sinkenden Energiepreisen. Wenngleich die Auftragsbücher  ab den 1950er-Jahren wieder gut gefüllt waren, kam es im Handwerk rohstoffbedingt immer wieder zu Verzögerungen in der Lieferkette. Weiters zeichnete sich insbesondere in der Branche der Holzverarbeitung ein zunehmender Überhang an unbesetzten Lehrstellen ab – der Anfang eines exponentiell anwachsenden Fachkräftemangels, welcher die Geschichte des Handwerks noch lange dominieren würde.

Bildercollage der Magazine des Tischler Journals aus den 1960er Jahren.
Die 1960er Jahre waren geprägt von Kunststoffmöbeln und Retro-Design.

60er-, 70er-Jahre: Handwerker produzieren Möbel für die Masse

Nach den Schrecken des Krieges setzte im österreichischen Handwerk ein rasanter Wirtschaftsaufschwung ein: "Wohlstand für alle" – so der Slogan des neuen gesellschaftspolitischen Leitbilds. Im Zuge jener Entwicklung setzte auch in den Tischlerbetrieben eine ungeahnte Hochkonjunktur ein, welche insbesondere von einer steigenden Nachfrage an Einbaumöbeln getragen wurde, wie die damaligen Ausgaben des Tischler Journals bezeugen. Beinahe jeder Haushalt verfügte nun über einen obligatorischen Einbauschrank mit integrierter TV-Nische. Im Möbeldesign ermöglichten neue Kunststoffe die Herstellung von günstigen sowie farbenfrohen Objekten, das Retro-Design zog mit schwungvollen Mustern in die Wohnzimmer ein und niedrigpreisige Möbel aus Spanplatten wurden zum neuen „Must-have“ der Masse. Spätestens ab den 1970er-Jahren setzte in den Handwerksberufen eine erste Rationalisierungswelle ein, wobei nicht nur neue und vor allem preiswertere Werkstoffe den Ertrag der Betriebe steigern sollten, sondern auch eine Optimierung der betriebsinternen Abläufe im Handwerk vorgenommen wurde.

Collage mit Möbelfotos aus Magazinen des Tischler Journals.
Ab den 80er Jahren setzte die Digitalisierung der Handwerksbetriebe ein.

80er- und 90er-Jahre: Retro meets minimal

In den 1980er-Jahren ist die Anzahl an Lehrlingen in den Tischlereien drastisch zurückgegangen. Neben fehlenden Ausbildungsplätzen spielten hierbei auch gesamtgesellschaftliche Veränderungen eine Rolle: Immer mehr Schüler strebten eine höhere Bildung mit Matura und akademischer Laufbahn an – eine Karriere im Handwerk kam dabei häufig nur am Rande in Betracht. Parallel griff die Digitalisierungswelle des Silicon Valleys erstmalig um sich, wodurch die neu entwickelte CAD-Software auch im Handwerk zunehmend zur Anwendung kam. In der Welt der Möbel ging es noch immer bunt zu – der Kreativität waren hier keine Grenzen gesetzt. Spätestens in den 1990er-Jahren setzte sich das Potpourri aus Retro- und Minimal-Design auch im Handwerk durch, welches in einem nie da gewesenen Materialmix unterschiedlichster Werkstoffe zum Ausdruck kam. Dass der schrille Overload nicht jedermanns Sache war, zeigt sich anhand der Geschichte der „Antidesign“-Bewegung, welche Ende der 1980er Jahre ihren Anfang nahm und von einer Art minimalistischer Postmoderne mit klaren Kanten und gedeckten Farben charakterisiert wurde.

Collage aus Bildern des Magazins Tischler Journal.
Nach den 2000er Jahren fand eine zunehmende Spezialisierung der Betriebe statt.

Das neue Jahrhundert: Vom Allrounder zum Spezialisten

Die 2000er Jahre waren das Jahrzehnt der Touchscreens und rollbarer sowie multifunktional nutzbarer Möbel. Es war jedoch auch das Jahrzehnt des Euro, wobei sich nach einer vorübergehenden Inflation die Rohstoffpreise bald wieder normalisierten. Unabhängig davon führte der Strukturwandel dazu, dass im Handwerk der kunden- und objektspezifische Möbel- und Innenausbau verstärkt in den Vordergrund rückte. Im Möbeldesign wurde der Individualismus zum neuen Maßstab, woraufhin eine zunehmende Spezialisierung sowie Digitalisierung der handwerklichen Branche stattfand. Des Weiteren galt es auf die wachsende Konkurrenz aus der Industrie zu reagieren, welche dem Handwerk zunehmend Marktanteile abgriffen. Heuer haben die Tischlerbetriebe wieder ein sattes Plus zu verzeichnen – wenngleich die Pandemie ihre Schatten noch immer weit vorauswirft und der krisenbedingte Rohstoffmangel viele Lieferengpässe verursacht. Nichtsdesto­trotz sind die Zukunftsaussichten für das Tischlerhandwerk gut – dank der Nachhaltigkeits-Debatte erfährt die jahrhundertealte Kultur des Handwerks und der Werkstoff Holz einen nie da gewesenen Höhenflug. So ist etwa die Vorstellung von hölzernen Hochhäusern nicht mehr nur bloße Fantasie, sondern bald schon greifbare Realität. Daher erfreut sich der traditionelle Beruf des Tischlers und das Holz als Werkstoff und Gestaltungsmittel einer immer größeren Beliebtheit – darüber hinaus werden Innovationen des Handwerks, wie etwa die Holztechnologie, immer weiter vorangetrieben, sodass das Material schon heute zu den Hightech-Rohstoffen der Zukunft gezählt werden kann.

Branchen
Tischlerei