Normen

Normen im Spannungsfeld zwischen Innovation und Sicherheit

14.05.2025

Normen sind eine gute und wichtige Sache. Doch in letzter Zeit leidet ihr Image. In einer sich rasant weiterentwickelnden Wirtschaft werden sie von manchen als Bremsklotz empfunden. Doch wie flexibel können und sollen Normen überhaupt sein? Noch dazu dort, wo es um die Sicherheit von Menschen geht?

59 Menschen kostete Mitte März ein fürchterlicher Brand in einer nordmazedonischen Disco das Leben. Wer sich je über Vorschriften, Auflagen und Normen zum Thema Brandschutz geärgert hat, verstummt angesichts solcher Ereignisse. Lieber doppelt und dreifach prüfen, als eine solche Katastrophe riskieren! Doch in der Porzellankiste liegen auch Dinge, die nicht von allen gleichermaßen als hilfreich wahrgenommen werden. Ein Beispiel: Eine innovative Brandschutzklappe, die weniger Wartung benötigt, Kosten spart und die Energieeffizienz verbessert – das klingt nach einer Erfolgsgeschichte und auch nicht nach weniger Sicherheit. Doch in Österreich steht der Verkauf des Produkts praktisch still. Der Grund: eine nationale Norm.

Ein Airbag, der dreimal auslösen soll?

Brandschutzklappe
Geba hat im Jahr 2017 die wartungsarme Brandschutzklappe WFK auf den europäischen Markt gebracht. © Geba

Das deutsche Unternehmen geba Bartholomäus GmbH hat mit seiner Brandschutzklappe WFK ein Produkt entwickelt, das sich im Brandfall zuverlässig schließt – allerdings nur einmal. Das Prinzip ist vergleichbar mit einem Airbag: Es gibt keinen Mechanismus, der ein erneutes Öffnen ermöglicht, denn das wäre schlichtweg nicht sinnvoll.
Das Problem: Die österreichische Önorm H 6031 verlangt eine jährliche Funktionsprüfung, bei der Brandschutzklappen dreimal geschlossen und wieder geöffnet werden müssen. Für klassische Klappen mit mechanischem Schließmechanismus ist das kein Problem – die WFK-Klappe hingegen würde dabei zerstört. Dabei entspricht das Produkt der harmonisierten europäischen Norm EN 15650, die es Herstellern ausdrücklich erlaubt, alternative Prüfmethoden festzulegen. Im Fall der WFK-Klappe wäre das eine regelmäßige Inspektion per Kamera, was auch die Technische Universität München in mehreren Gutachten als ausreichend bestätigt. Trotzdem bleibt die Tür für die Brandschutzlösung verschlossen.

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Kunden sind überfordert

Tobias Walch
Tobias Walch, Geschäftsführer bei Sawa-Arion in Hof bei Salzburg © Sawa-Arion GmbH

Der Leidtragende in diesem Fall ist das Unternehmen Sawa-Arion in Hof bei Salzburg, das als Industrievertreter in Österreich die Klappe gerne in Verkehr bringen möchte. Geschäftsleiter Tobias Walch beschreibt die Lage: „Meine Firma und auch die geba Bartholomäus GmbH erleiden durch die nicht adaptierte Önorm H 6031 einen großen wirtschaftlichen Schaden. Viele Kunden orientieren sich an dieser Norm und bauen unsere Brandschutzklappe WFK nicht ein, obwohl sie deren Vorteile erkennen. Da hilft auch der Hinweis auf die harmonisierte europäische Norm nicht. Aus Gewohnheit und Unwissenheit hält man an der nationalen Norm fest und die meisten Kunden sind mit den vielen normativen Bestimmungen überfordert. Daher habe ich im Auftrag des Herstellers bereits zwei Anträge an Austrian Standards zur Überarbeitung der Önorm H 6031 gestellt. Diese enthalten auch Formulierungsvorschläge für den maßgeblichen Punkt „Funktionsprüfung“.

Mühlen mahlen langsam

Die WFK-Klappe bietet laut Hersteller Vorteile: Eine aufwendige mechanische Kontrolle ist nicht nötig, eine einfache Kamerabefahrung reicht aus. Dies senkt die Kosten für Gebäudebetreiber. Doch statt diese Vorteile zu nutzen, erkenne man bei Austrian Standards International (ASI) wenig Absicht, die bisherige Norm zu ändern, ist Tobias Walch überzeugt. Laut ihm wurde ein Antrag im Jahr 2021 auf Anpassung der Vorschrift nicht behandelt– ohne offizielle Begründung. Hinsichtlich der nun seit 2023 laufenden Überarbeitung der Önorm H 6031 brachte eine Anfrage des Rechtsanwaltes des Unternehmens bislang nur eine vage Antwort: Man könne sich ja an das Schiedsgericht wenden.
Austrian Standards betont in einer Stellungnahme die Wichtigkeit des Themas: „Auf Grund der vielen unterschiedlichen Gesichtspunkte dieses Falles, der von uns sehr ernst genommen wird, wird eine mögliche Anpassung genauestens geprüft. Dazu braucht es Gespräche mit den unterschiedlichen, fachlich involvierten Stakeholdern wie zum Beispiel der Feuerwehr und dem Katastrophenschutz. Die Wichtigkeit des Themas macht eine grundlegende Prüfung auf allen Ebenen unabdingbar. Insbesondere die Argumente auf der technischen Seite müssen erörtert werden, dazu braucht es hier allen voran die fachlich zuständige Arbeitsgruppe, die sich damit befasst.“

„Meine Firma erleidet durch eine nicht adaptierte Önorm einen großen wirtschaftlichen Schaden.“
Tobias Walch

Europäische Norm vs. nationale Vorschrift

Laut Tobias Walch könnte man sich diesen Punkt sparen. Er führt dazu ins Treffen, dass der Europäische Gerichtshof entschieden habe, dass nationale Normen nicht über die europäischen Vorgaben hinausgehen dürfen. Hier verweist ASI darauf, dass es sehr wohl nationale Ergänzungen geben dürfe. Walch ist sich sicher: „Die zutreffende hEN 15650 wird auch in allen österreichischen Regelungen, die gesetzlichen Charakter haben, zitiert. Die Anwendung der rein österreichischen Normen, wie z. B. Önorm H 6031, beruht auf Freiwilligkeit und ist kein Gesetz, was aber in der Regel bei Fachbetrieben und auch Sachverständigen nicht bekannt ist.“
Unternehmer Tobias Walch sieht das größte Problem in der langen Dauer all dieser Prozesse: „In der seit 2021 bei der Austrian Standards anhängigen Angelegenheit warten der Hersteller und ich auf den fertigen Entwurf der Önorm H 6031. Dieser müsste Mitte dieses Jahres zur Begutachtung veröffentlicht werden. Für eine Überarbeitung einer Norm sind nämlich zwei Jahre Projektlaufzeit angesetzt, die aber wieder verlängert werden kann. Sollten unsererseits notwendigen Einsprüchen am Entwurf dann nicht stattgegeben werden, wird über ein gerichtliches Vorgehen zu entscheiden sein. Aber bis dahin vergehen ohnehin noch Monate, in denen uns viele Geschäfte entgehen.“

Mut zur Modernisierung

Normen sind essenziell für Sicherheit und Qualität, niemand bestreitet das. Doch wenn sie zum Selbstzweck werden und sich gegen Innovation und Nachhaltigkeit stellen, dann läuft etwas schief. So berichtete die Österreichische Bauzeitung kürzlich über die Önorm H 7500-1 zur Heizlastberechnung von Gebäuden, die laut Experten zu überdimensionierten Heizanlagen führt. In der Baubranche wird immer intensiver über „Bauen außerhalb der Norm“ debattiert. Denn es ist nicht nur der Brandschutz, auch im Bereich Schallschutz oder beim Einsatz von Materialien stehen als zu eng empfundene Regelungen einer nachhaltigen Bauweise und einem sparsamen Einsatz von Ressourcen entgegen. „Low-Tech bauen“ lautet das Stichwort, unter dem ein geringerer Einsatz von Technik und Material im Sinne der Nachhaltigkeit gefordert wird. In Deutschland hat man mit der Gebäudeklasse E darauf bereits reagiert.

Unternehmer Tobias Walch ist jedoch wenig optimistisch: „Die Arbeitsgruppen der Austrian Standards, die die österreichischen Normen formulieren, werden von verschiedensten Stakeholdern zusammengesetzt, die ihre eigenen Interessen vertreten. Ausländische Hersteller sind davon ausgeschlossen. Auf Grund der Größe (ca. 30 – 35 Personen) und unterschiedlichen Standpunkten dauert die Konsensfindung in diesem unentgeltlich arbeitenden Gremium sehr lange. Mein Vorschlag für eine schnellere und aktuellere Normgestaltung ist, diese einem unabhängigen Expertenteam (technische Universitäten, Ministerium, …) von maximal fünf Personen zu übertragen, das Vorschläge von Stakeholdern entgegennimmt, bewertet und dann entscheidet bzw. auch die Normen erstellt. Zumindest aber sollte Austrian Standards, die die Normen herausgibt und verkauft, eine aktivere Rolle im Hinblick auf Inhalte und Prozessablauf einnehmen.“

Wir laden alle Akteur*innen, von der Bauwirtschaft bis zur Politik, ein, um in den Dialog zu treten.
Florian Wollner

Normen haben gute Gründe

Zu diesem Vorschlag äußert sich Austrian Standards International wie folgt: „Es besteht natürlich die Möglichkeit, in anders zusammengestellten Gremien Richtlinien zu erarbeiten – das tun große Unternehmen und Universitäten immer schon. Dann heißen die Ergebnisse aber anders und nicht Önorm.  Der Prozess des Normenschaffens als Selbstverwaltungsinstrument der Wirtschaft existiert seit über 100 Jahren (1920) und hat sich aus gutem Grund bewährt. Der Rechtsrahmen in Österreich ist das Normengesetz. In § 5 Abs. 1 NormG 2016 der zu berücksichtigenden Punkte stehen explizit u.a. der Konsens, die Freiwilligkeit der Anwendung von Normen, die Unabhängigkeit von Einzelinteressen, die Effizienz, die Gesetzeskonformität sowie die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Auswirkungen (Kosten/Nutzen). Die Welthandelsorganisation WTO hat in ihrem Kodex zum Abbau technischer Handelshemmnisse die folgenden Grundprinzipien der internationalen Normung festgelegt: Transparenz, Offenheit, Unparteilichkeit und Konsens, Wirksamkeit und Relevanz, Kohärenz sowie Entwicklungsdimension.“

Diese Prinzipien stehen, so das ASI, auch in der Geschäftsordnung und diese bilde die Grundlage für die Normungsarbeit. Normung sei demnach ein Prozess, in dem die Meinungsbildung auf Sachargumenten beruht. Die Norminhalte werden von den Teilnehmenden gemeinsam erarbeitet und beschlossen: „In diesem Konsensfindungsprozess sind die Beiträge aller objektiv zu würdigen. Beschlüsse sind sachbezogen zu fassen, zu begründen und zu dokumentieren. Die Entwicklung von Normen ist Selbstverwaltungsaufgabe der beteiligten Interessensträger. Austrian Standards International verhält sich zu den Inhalten neutral und nimmt keinerlei Einfluss darauf“, betont ASI.

Lesen Sie das Interview mit Florian Wollner von Austrian Standards International

Wie Konsens definiert ist

Und es ist schließlich eine Norm (ÖVE/Önorm EN 45020:2007) in der definiert wird, dass Konsens die allgemeine Zustimmung ist, „die durch das Fehlen aufrechterhaltenden Widerspruches gegen wesentliche Inhalte seitens irgendeines wichtigen Anteiles der betroffenen Interessen und durch ein Verfahren gekennzeichnet ist, das versucht, die Gesichtspunkte aller betroffenen Parteien zu berücksichtigen und alle Gegenargumente auszuräumen.“ Konsens bedeute also nicht notwendigerweise Einstimmigkeit. „Die Entwicklung von Normen dient der Gesellschaft. Interessen eines Einzelnen oder einer Organisation haben sich dem unterzuordnen“, so das ASI in einer Stellungnahme. Und weiter: „Die Aufgabe der Komitee-Manager*innen von Austrian Standards International besteht vor allem darin, auf die Einhaltung der Geschäftsordnung zu achten und die Teilnehmenden durch den Erstellungs-Prozess zu begleiten. So wird sichergestellt, dass Önormen in einem transparenten und nachvollziehbaren Verfahren zu einem Ergebnis führen, das der jeweils relevanten Branche eine Hilfestellung bietet.“

Wunsch nach Flexibilität

Florian Wollner
Florian Wollner, Director Standards bei ASI (Austrian Standards International) ©Felicitas Matern

Ist der Prozess, wie Normen zu Stande kommen und weiterentwickelt werden, aus Sicht des ASI ausreichend flexibel und praxisnah oder sieht man hier Reformbedarf? In einer Stellungnahme teilte uns das ASI mit: „Der Wunsch nach mehr Flexibilität und Aktualität in der Normung ist nachvollziehbar, besonders in einem Bereich wie dem Bauwesen, wo technologische Entwicklungen, Nachhaltigkeitsziele und gesellschaftliche Anforderungen laufend zunehmen. Austrian Standards begrüßt jeglichen Dialog, der dazu beiträgt, zukunftsfitte, transparente und praxisnahe Lösungen zu entwickeln. Standards sind Empfehlungen und eine Empfehlung lebt von Akzeptanz. Diese entsteht nicht durch Vorgaben von oben, sondern durch einen offenen und fairen Prozess: Alle Beteiligten, egal ob Konzern, KMU oder Zivilgesellschaft, sprechen mit gleicher Stimme. Niemand wird ausgeschlossen, und jede Meinung zählt.“
Austrian Standards räumt ein, dass der Weg zum Konsens manchmal mühsam ist, doch sieht genau darin die Stärke des Systems: „Lösungen in Form eines Standards entstehen erst durch den intensiven Austausch von Argumenten, durch Meinungsvielfalt und Dialog,“ erklärt Florian Wollner, Director Standards bei ASI. Es gebe sogar die Möglichkeit, bei begründetem Dissens einen Antrag auf Mehrheitsbeschluss zu stellen, „was in der Praxis aber kaum notwendig ist, weil der Weg des Miteinanders in der Regel zu tragfähigen Ergebnissen führt“. Austrian Standards koordiniert diesen Prozess als neutrale Plattform, entscheidet aber nicht über Inhalte. „Gleichzeitig gibt es bereits heute Instrumente, um rasch auf neue Entwicklungen zu reagieren, etwa ON-Regelwerke oder gezielte Normenüberarbeitungen. Hinweise dazu nehmen wir ernst und sehen sie als Anstoß, bestehende Prozesse laufend zu reflektieren. Denn klar ist: Auch Normung muss sich weiterentwickeln und das tut sie am besten im Dialog mit allen, die davon betroffen sind“, so Wollner.

Die Frage, mit der die Bauwirtschaft konfrontiert ist, lautet also nicht nur, wie viele Normen ausreichend sind. Es bedarf vielmehr auch einer Klärung, wie die politischen Entscheidungsträger den Prozess gestalten, wie Normen entstehen, verändert, weiterentwickelt und letztlich auch überprüft werden – im Sinne einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft und im Sinne der Nachhaltigkeit. Immerhin: kurz vor Redaktionsschluss berichtete Tobias Walch über neu aufgegriffene, “sehr konstruktive Gespräche” mit ASI in seiner Angelegenheit. Gut möglich, dass der Fall rasch zu einem guten Ende geführt wird.

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