Interview & Podcast

Der Architekt als Bauteilaktivist

01.12.2025

Sechs Jahre nach Fertigstellung des Wiener Wohnbauprojekts MGG22 ziehen der Initiator, Architekturpublizist und Stadtforscher Norbert Mayer, und einer der beteiligten Architekten, Peter Thalbauer, Bilanz. Ein Gespräch über Bauteilaktivierung, Bestandserhalt, Nachhaltigkeit und die Frage, ob Architekt*innen für aktives Engagement verantwortlich sind.

Das Wohnbauprojekt MGG22 – benannt nach der Mühlengrundgasse im 22. Wiener Gemeindebezirk – wurde 2018 fertiggestellt und 2019 bezogen (wir haben berichtet). Heute, mehrere Jahre später, ist es zwar keine architektonische Neuheit mehr, doch der zeitliche Abstand erlaubt eine ehrliche Diskussion über grundlegende Fragen, die sich beim Blick in den Rückspiegel stellen: Wie muss sich der Städtebau in Zeiten der Klimakrise weiterentwickeln? Wird das Potenzial der Bauteilaktivierung erkannt und genutzt? Wann hören wir auf, wertvollen Bestand abzureißen? Und wie sehr müssen Architekt*innen zu Aktivist*innen werden?

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Norbert Mayer
Norbert Mayr (C) Stefan Zenzmaier

Doch beginnen wir mit MGG22, dem Bauprojekt Mühlengrundgasse: In Kooperation mit dem gemeinnützigen Bauträger „Neues Leben“ wurden dort rund 160 Wohneinheiten auf vier Bauparzellen realisiert. Der städtebauliche Impuls, so Bauherr und Initiator Norbert Mayer, sei von Anfang an von einem ganzheitlichen Verständnis getragen gewesen: „Wie schafft man einen nachhaltigen Wohn- und Lebensort, der zum Verweilen einlädt, energieautark ist und Zwangsmobilität vermeidet?“ Die Antwort war ein Quartier, das wie ein kleines Städtchen wirkt – mit öffentlichen Durchwegungen, großzügigen Begegnungszonen und einem Ensemble-Charakter, der Grundstücksgrenzen unsichtbar macht. Damit wurde bewusst dem herkömmlichen Investorenmodell urbaner Verdichtung etwas anderes gegenübergestellt: lebenswerte Räume, Gemeinschaft und soziale wie auch ökologische Nachhaltigkeit.

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Bauteilaktivierung als Schlüsseltechnik

Technisch innovativ ist das Projekt vor allem durch sein Energieversorgungskonzept: MGG22 kommt vollständig ohne Gas- und Fernwärmeanschluss aus – zur damaligen Zeit ein kühner Plan. Stattdessen setzt es auf die sogenannte Thermische Bauteilaktivierung (TBA) – eine heute bestens etablierte Technologie, bei der wasserführende Rohrsysteme in den Betondecken integriert sind. Diese speichern thermische Energie, die über Wärmepumpen aus Erdwärme und – beim MGG22 – Windüberschussstrom eingespeist wird.

Sophie und Peter Thalbauer
Sophie und Peter Thalbauer (C) privat

„Der Beton speichert Wärme oder Kühle und gibt sie zeitversetzt wieder ab“, erklärt Peter Thalbauer vom Wiener Büro Sophie & Peter Thalbauer ZT GmbH und einer von drei ausführenden Architekt*innen.  Damit fungiert das Gebäude selbst als thermischer Speicher – eine Form der Sektorenkopplung, die erneuerbare Energien effizient nutzt und Netzschwankungen abfedert. Das Projekt hat damit bewiesen, dass auch im mehrgeschossigen Wohnbau energieautarke Konzepte technisch und wirtschaftlich realisierbar sind.
Vom Konzept der Bauteilaktivierung sind die beiden Gesprächspartner vollständig überzeugt und sehen es nicht auf Beton und auch nicht auf Neubau limitiert. „Es funktioniert genauso gut im Holzbau und auch im Bestand“, erklärt Mayer. Um das zu beweisen, haben die Thalbauers gemeinsam mit Norbert Mayer, Michale Staudinger und Harald Kuster unter dem Titel „Build on what we have“ einen Beitrag zur Gestaltung des Österreichischen Pavillons auf der Architektur-Biennale in Venedig eingereicht. Er kam zwar nicht zum Zug, fand aber viel Beachtung. Ein unter Einhaltung sämtlicher Auflagen des Denkmalschutzes dauerhaft „bauteilaktivierter“ Josef Hoffmann Bau wäre für hitzegeplagte Biennale-Besucher eine angenehme Gelegenheit, die kühlende Wirkung dieser Technik zu erleben.

Bestandserhalt statt Neubau

Entwurf für das Haus der Jugend
Entwurf für das Haus der Jugend (C) Sophie und Peter Thalbauer ZT GmbH

Für das Büro Thalbauer spielt das Thema Bestandserhalt generell eine zentrale Rolle. Gemeinsam mit Norbert Mayer entwickelte man etwa einen Vorschlag für die Sanierung des „Haus der Jugend“ der Arbeiterkammer. Damit wurde dargelegt, dass Erhalt bestehender Substanz technisch und funktional nicht nur möglich, sondern ökologisch geboten ist. „Wir haben gezeigt, dass man mit wenigen Eingriffen ein barrierefreies, energieeffizientes Gebäude schaffen kann“, so Thalbauer. Die Jury prämierte dennoch ein Neubauprojekt. Mayer kritisiert den mangelnden politischen Willen: „Es gibt eine Avantgarde des ressourcenschonenden Bauens – aber oft fehlt der Bauherr, der mutig genug ist, den Wandel zu unterstützen.“ Ein Umstand, der sich erst langsam ändert aber möglicherweise durch Initiativen wie HouseEurope! endlich den nötigen Schwung erhält. Das europaweite Volksbegehren setzt sich für klare gesetzliche Rahmenbedingungen ein, um dem Bestandserhalt rechtlich zu verankern. Neben rechtlichen Rahmenbedingungen braucht es aber auch gelungene Projekte, die es der Bevölkerung ermöglichen, die Attraktivität des Bestanderhalts zu erleben. Während Thalbauer im Gespräch Kopenhagen und Barcelona als Beispiele erwähnt, sieht er in den Althangründen eine riesengroße Chance, ein solches Vorzeigeprojekt auch in Wien zu realisieren.

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Plädoyer für Aktivismus

Ein zentrales Thema im Gespräch ist das Spannungsfeld zwischen klimapolitischen Zielen und tatsächlicher Baupraxis. Mayer warnt eindringlich vor einem „Greenwashing“, das sich auf Klimafolgenanpassung konzentriert, ohne dem Klimaschutz gerecht zu werden: „Wer nur über Straßenbäume spricht, hat den Kollaps bereits akzeptiert.“ Besondere Kritik richtet sich an Energieversorger und Bauherren, die Nachhaltigkeit proklamieren, aber an fossilen Konzepten festhalten. In diesem Zusammenhang steuert das Gespräch auf die Frage zu, ob Architektinnen und Architekten generell aktivistischer auftreten sollen? Norbert Mayer fordert, dass Architektur mehr sein müsse als Gestaltung und verweist auf die Besetzung der Baustellen der Stadtstraße Aspern durch Klimaaktivistinnen und -aktivisten, an der er selbst beteiligt war, um auf die ökologischen Folgen solcher Infrastrukturprojekte aufmerksam zu machen.

Evidenzbasierter Widerstand

Norbert Mayer bei der Verleihung des "Courageous Scientists Award"
Norbert Mayer bei der Verleihung des „Courageous Scientists Award“ ©Derschmidt2

Dass Haltung und Engagement Wirkung zeigen können, beweist ein Projekt, das Mayer besonders am Herzen liegt: der Courageous Scientists Award. Mit dem von ihm gegründeten Preis werden Forscherinnen und Forscher ausgezeichnet, die sich nicht auf akademische Analysen beschränken, sondern ihr Wissen aktiv in gesellschaftliche Auseinandersetzungen einbringen – etwa durch Aufklärung, Beteiligung an Protesten oder zivilen Ungehorsam.
Peter Thalbauer war bei der Preisverleihung Mitte November dabei. Was ihn besonders berührt hat, waren die Auftritte der Preisträgerinnen und Preisträger: „Das waren keine PR-Profis, sondern junge Menschen, die mit Überzeugung und Klarheit gesprochen haben. Man hat gespürt: Die stehen zu dem, was sie tun – und das ist wahnsinnig ermutigend.“ Für Thalbauer fügen sich diese Eindrücke gemeinsam mit Wahrnehmungen aus seinem beruflichen Umfeld zu einem durchaus optimistischen Bild: Er beobachtet in Wien eine neue, engagierte Architekturszene, die Nachhaltigkeit nicht nur als Entwurfsparameter versteht, sondern als gesellschaftliche Aufgabe und nennt etwa die Initiative „Klimafrühstück“ seines Architektenkollegen Markus Zilker als ein Beispiel dafür. Ein Wandel sei spürbar, sagen beide. Doch er brauche noch mehr Sichtbarkeit, noch mehr Mut und gemeinsame Stimme.

Zu den Personen

Norbert Mayer

Norbert Mayer ist Architekturpublizist, Stadtforscher und Klimaaktivist. Nach Jahren intensiver wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Stadtentwicklung engagiert er sich heute praktisch – insbesondere in der Umsetzung ökosozialer Wohnbauprojekte. Mit dem Courageous Scientists Award setzt er sich dafür ein, wissenschaftlich fundierten Klima- und Umweltaktivismus sichtbar und respektiert zu machen. Der Preis zeichnet Menschen aus, die sich trotz Widerständen für eine gerechte und nachhaltige Zukunft einsetzen.

Peter Thalbauer

Peter Thalbauer ist Architekt und Geschäftsführer des Wiener Büros Sophie & Peter Thalbauer ZT GmbH. Dort realisiert er mit seinem Team seit vielen Jahren Projekte, die Architektur, Städtebau und soziale Verantwortung verbinden – unter anderem das MGG22. Besonders geprägt sind die Entwürfe durch Nachhaltigkeit, Ressourcenschonung und Gemeinwohlorientierung.

Courageous Scientists Award

Der Courageous Scientists Award wurde ins Leben gerufen, um Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auszuzeichnen, die ihr Wissen nicht im Elfenbeinturm belassen, sondern sich aktiv für den Klima- und Umweltschutz einsetzen – auch außerhalb klassischer akademischer Kanäle.

Ausgezeichnet werden Personen, die sich auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse gegen klimaschädliche Infrastrukturprojekte engagieren, sich öffentlich äußern, an Protesten teilnehmen oder neue Impulse in den politischen Diskurs einbringen. Ziel ist es, evidenzbasierten Widerstand sichtbar zu machen und zu würdigen.

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Stefan Böck

Stefan Böck ist Redaktionsleiter beim Österreichischen Wirtschaftsverlag