Interview

Normen: Standardisierung soll nicht einschränken

14.05.2025

Sind Normen ein zu enges Korsett für die Bauwirtschaft? Florian Wollner, Director Standards bei Austrian Standards International, spricht im Interview über die Prinzipien und Gestaltungsmöglichkeiten von Normen - und über die Debatte zum "Bauen außerhalb der Norm".

In Architektur und Bauwirtschaft wird derzeit viel über den Wunsch nach einem lockeren Umgang mit Normen gesprochen. Handwerk und Bau berichtete auch über den Fall einer innovativen Brandschutzklappe, die auf Grund einer nicht normgerechten Überprüfungsmöglichkeit derzeit nicht auf den Markt kommen kann. Wir haben mit Florian Wollner, Director Standards bei Austrian Standards International über seine Sicht auf das Thema gesprochen.

Handwerk und Bau: Wie beurteilen Sie den Wunsch der Bauwirtschaft nach „Bauen außerhalb der Norm“?

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Florian Wollner
Florian Wollner, Director Standards bei Austrian Standadrs International ©Felicitas Matern

Florian Wollner: Das ist ein Thema, das wir als neutrale und unabhängige Institution sehr aufmerksam beobachten. Grundsätzlich gilt: Standardisierung soll Orientierung geben, nicht einschränken. Dennoch ist es wichtig, auch neue Wege zu denken, insbesondere wenn es um nachhaltige, innovative oder alternative Baukonzepte geht.
Ob und in welchem Umfang „Bauen außerhalb der Norm“ möglich oder wünschenswert ist, muss allerdings zunächst auf politischer Ebene diskutiert werden. Austrian Standards steht bereit, wenn daraus konkrete Ziele oder Bedarfe entstehen, etwa um bestehende Standards zu überarbeiten oder neue zu entwickeln.
Wenn es dabei um Sicherheitsfragen geht, sind laut Kompetenzverteilung primär die Bundesländer zuständig. Hier müssen klare rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen werden.

Unser Ansatz ist: Wir laden alle Akteur*innen, von der Bauwirtschaft bis zur Politik, ein, um in den Dialog zu treten. Austrian Standards versteht sich als Plattform, auf der unterschiedliche Perspektiven zusammenkommen, um tragfähige und zukunftsfähige Lösungen zu entwickeln.
Formate wie die 7. Auflage des Baustammtischs am 26. März zeigen, wie wichtig der offene Austausch ist, wenn es darum geht, Innovation im Bauwesen zu ermöglichen und gemeinsam über neue Wege nachzudenken.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit der ausführenden Wirtschaft, wenn es um die Ausgestaltung von Normen geht?

Die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft ist ein zentrales Element der Normung, denn Normen sollen praktikabel, anwendbar und wirtschaftsnah sein. Umso erfreulicher ist es, dass mittlerweile 44 Prozent der entsendenden Organisationen kleine und mittelständische Unternehmen sind. Das zeigt: Normung ist für die gesamte Wirtschaft relevant – unabhängig von Größe oder Branche.
Man kann sich auf verschiedene Arten einbringen: Zum einen unmittelbar, indem Organisationen eigene Expert*innen in Normungsgremien entsenden. Aktuell sind rund 4.800 fachkundige Personen aus etwa 2.800 Organisationen aktiv beteiligt – ein starkes Zeichen für gelebte Mitgestaltung. Zum anderen mittelbar, z. B. über Interessensvertretungen oder Fachverbände, die die Anliegen und Sichtweisen ihrer Mitglieder in die Gremien einbringen.

Ein weiterer wichtiger Baustein der Beteiligung ist die öffentliche Stellungnahme: Wenn ein Gremium einen Normentwurf fertiggestellt hat, wird dieser online veröffentlicht. Jeder hat dann die Möglichkeit, den Entwurf zu kommentieren. Jeder Kommentar wird ernst genommen, geprüft und beantwortet. Sollte ein Einwand nicht berücksichtigt werden, besteht die Möglichkeit, über eine unabhängige Schlichtungsstelle Einspruch zu erheben.
Kurz gesagt: Standardisierung ist gelebte Wirtschaftspartnerschaft. Gemeinsam mit Unternehmen und weiteren Interessensträgern entstehen Lösungen, die Innovation ermöglichen und Wachstum sichern. Bei Standards geht es nicht um die Durchsetzung von Einzelinteressen, sondern um Lösungen, die auf dem Konsens der Allgemeinheit basieren. Zwar werden auch partikularen Interessen Gehör geschenkt, jedoch dürfen diese keinesfalls einen Standard prägen, nur weil einzelne Akteur*innen über mehr Ressourcen verfügen als andere.

Wie gut ist die Harmonisierung von Normen auf europäischer Ebene entwickelt? Besteht hier weiterer Handlungsbedarf?

Europäische Normen sind eins zu eins zu übernehmen, nationale Regelungen, die im Widerspruch dazu stehen, müssen zurückgezogen werden. Das ist nicht nur gelebte Praxis, sondern wird von uns konsequent geprüft.
Die Harmonisierung auf europäischer – aber auch internationaler – Ebene ist für das Exportland Österreich von zentraler Bedeutung. Rund 94 % aller gültigen Normen in Österreich sind europäischen oder internationalen Ursprungs. Der Anteil rein nationaler Normen ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gesunken.
Unser Ziel ist es, europäische Normung aktiv mitzugestalten und Österreichs Stimme auch weiterhin im internationalen Netzwerk Gehör zu verschaffen. Denn: Einheitliche Standards stärken den europäischen Binnenmarkt und sind ein entscheidender Wettbewerbsvorteil für heimische Unternehmen.

Manche Wirtschaftstreibende sehen Normen sehr negativ? Wie begegnen Sie dieser Aussage?

Es existiert das Vorurteil, dass Normen mit Bürokratie oder Einschränkung gleichgesetzt werden. Dabei sind sie genau das Gegenteil: Sie schaffen Klarheit, Vergleichbarkeit und Rechtssicherheit. Für Unternehmen sind Normen ein wesentliches Werkzeug, um Qualität sicherzustellen, Märkte zu erschließen und Innovationen schneller zur Anwendung zu bringen.
Gerade in einer Zeit, in der Themen wie Nachhaltigkeit, Digitalisierung oder Barrierefreiheit an Bedeutung gewinnen, bieten Normen eine konkrete Orientierung und entlasten Betriebe darin, komplexe Anforderungen umzusetzen. Oft erleben wir, dass sich die Sichtweise ändert, sobald Unternehmen aktiv in Normungsprozesse eingebunden sind und den direkten Mehrwert erkennen.

Normen entstehen durch Expert*innen aus der Praxis. Wer mitarbeitet, kann Standards mitgestalten, statt sie später „nur“ umzusetzen. Diese Chance bieten wir als ein offenes Haus und als neutrale Plattform allen, die gewillt sind, sich einzubringen.

Hier finden Sie den Beitrag über die nicht normgerechte Brandschutzklappe