Architekturbiennale: Zwischen Gemeindebau und Hausbesetzung
Sabine Pollak ist eine der drei Kurator*innen des österreichischen Beitrags zur Architekturbiennale 2025 in Venedig. Dort verhandelt sie nicht nur architektonische, sondern zutiefst politische Themen: Wohnraum, Bodenpolitik, Migration, soziale Verantwortung. Im Interview spricht sie über Wohnungskrisen, Bodenpolitik, gemeinschaftliches Wohnen und darüber, was Wien von Roms lebendiger Zivilgesellschaft lernen kann.

Am 10. Mai wurde der österreichische Pavillon auf der Architekturbiennale 2025 in Venedig eröffnet. Unter dem Titel “Agency for Better Living” rückt das Kuratorenteam – bestehend aus Sabine Pollak, Michael Obrist und Lorenzo Romito – die drängenden Fragen des Wohnens in den Fokus: Leistbarkeit, Bodenpolitik, Migration und neue Formen des Zusammenlebens. Der Pavillon thematisiert die Wohnungsfrage als existenzielle Krise und stellt Wien und Rom als zwei kontrastierende Modelle urbaner Entwicklung gegenüber. Während Wien für seinen sozialen Wohnbau bekannt ist, zeigt Rom alternative Wohnformen, die durch zivilgesellschaftliches Engagement entstanden sind.
Im Zentrum des Pavillons befindet sich der Space of Negotiation, ein von Josef Hoffmann inspirierter Raum, der als Ort für Diskussionen und Versammlungen dient. Hier sollen während der Biennale regelmäßig Veranstaltungen stattfinden, die den Austausch zwischen Expert*innen und Besucher*innen fördern. Hier haben wir mit Sabine Pollak das folgende Gespräch geführt.

Architektur und Bau FORUM: Frau Pollak, worum geht es bei Agency for Better Living?
Sabine Pollak: Unser Ausgangspunkt ist die Wohnungsfrage – oder vielmehr die Wohnungskrise, die inzwischen schon eine existenzielle Dimension hat. In vielen europäischen Städten ist Wohnen unleistbar geworden, die Wirtschaft stagniert, der Tourismus überrollt ganze Viertel, Plattformen wie Airbnb verdrängen Dauerbewohner*innen. Es wird fast nur noch für den privaten Sektor gebaut – zu Höchstpreisen. Da sehen wir als Architekt*innen eine Verantwortung, gegenzusteuern.
Was kann Architektur da konkret tun?
Wir können zwar nicht mit Boden spekulieren oder große Investitionen tätigen, aber wir können Strategien entwickeln, wie sich Städte gegen Spekulation wehren können. Damit steht man sofort mit beiden Beinen in der Politik – besonders in der Bodenpolitik. Wenn eine Stadt wie Wien über eigene Bodenreserven verfügt und damit sozialen Wohnbau realisiert, ist das ein großer Vorteil. Andere Städte wie Berlin oder Paris haben das längst verloren.
Ihr Beitrag stellt Wien und Rom gegenüber. Warum gerade diese beiden Städte?
Wien und Rom sind beide ehemalige Imperien, beide aus Ziegel gebaut, beide stark vom Tourismus geprägt. Doch im sozialen Wohnbau unterscheiden sie sich extrem. Wien hat ein sehr gut funktionierendes System des leistbaren Mietwohnens. In Rom hingegen gibt es fast ausschließlich Eigentum – und sehr viele Menschen leben dort in besetzten Häusern. Uns interessiert, wie dort Gemeinschaft entsteht, wie sich verschiedene Kulturen organisieren, wie Wohnen und Arbeiten ineinandergreifen. Diese Prozesse sind auch für Wien lehrreich.

Was könnte Wien konkret von Rom lernen?
Die Kraft der Zivilgesellschaft. In Rom kümmern sich viele nicht nur um die eigene Wohnung, sondern um ganze Häuser, um gemeinschaftliche Räume und um Grünflächen. In Wien funktioniert viel über das Versorgermodell. Das ist zwar effizient, aber es fehlt oft das gemeinsame Tun, das Teilen. Das könnte ein Zukunftsthema sein – gerade in Hinblick auf Klima, Migration und gesellschaftliche Veränderungen.
Ist Wien beim Wohnen vielleicht ein bisschen zu „brav“?
Ja, durchaus. Es gibt spannende historische Experimente wie das Ein-Küchen-Haus oder die Sargfabrik – aber aktuell ist der ökonomische Druck enorm. Jeder Quadratmeter muss genutzt werden, die Normenflut ist groß. Das macht es schwer, neue Wohnformen zuzulassen. Und ja, wir brauchen weniger Ordnung und mehr Mut zur Abweichung.
Rom wirkt mit seinen besetzten Häusern oft anarchisch. Besteht nicht die Gefahr, dass man das romantisiert?
Wir hoffen, dass wir das nicht tun. Es geht uns nicht um Romantik, sondern um Prozesse. In Projekten wie „Spin Time Labs“, wo 450 Menschen aus 27 Nationen zusammenleben, gibt es komplexe Regelwerke. Das ist oft besser organisiert als so mancher Wiener Wohnbau. Es geht darum, leerstehende Gebäude zu nutzen, Verantwortung zu übernehmen und gemeinschaftlich zu leben. Viele dieser Gruppen sind hochpolitisch und sehr bewusst in ihrem Tun.
Wir brauchen dringend neue rechtliche Rahmenbedingungen, um solche Modelle breiter umzusetzen.
Sabine Pollack
Gibt es auch in Wien vergleichbare Entwicklungen?
Wien hat solche Bewegungen ebenfalls aufgenommen. Die Arena-Besetzung in den 1970er-Jahren war ein wichtiger Moment, der zu einer dauerhaften Kulturinstitution geführt hat. Auch heute gibt es Versuche, Hausbesetzungen zu legalisieren und produktiv zu nutzen. Wien ist konfliktscheu, aber oft auch pragmatisch. Das ist eine Stärke.

Wo sehen Sie denn die größten Herausforderungen im Wiener Wohnmodell?
Wir werden älter – als Gesellschaft. Einsamkeit ist ein großes Thema, nicht nur bei Älteren. Viele leben allein, besonders seit Corona. Da braucht es neue Wohnformen, die Gemeinschaft ermöglichen, ohne die Privatsphäre zu opfern. Außerdem stellt die Klimakrise den Bestand vor riesige Aufgaben: Viele Gemeindewohnungen sind überhitzt, überbelegt und veraltet. Wir brauchen flexible Typologien für neue Lebensformen – Patchwork, Alleinerziehende, ältere Singles.
Gibt es schon Vorbilder für solche neuen Modelle?
Ja, etwa das Frauenwohnprojekt [ro*sa] Donaustadt oder das Clusterwohnen von feld72 im Sonnwendviertel. Kleine Wohneinheiten mit gemeinschaftlich nutzbaren Räumen – das funktioniert gut. Auch in der Schweiz gibt es spannende Beispiele. Aber wir brauchen dringend neue rechtliche Rahmenbedingungen, um solche Modelle breiter umzusetzen.
Zum Schluss noch zum Pavillon selbst: Was erwartet die Besucher*innen im Freiraum zwischen den beiden Austellungen zu Wien und Rom?
Im Innenhof des Pavillons steht der Space of Negotiation, ein Verhandlungsraum, inspiriert von einem kleinen Pool von Josef Hoffmann, der diesen ursprünglich für den Pavillion vorgesehen hat. Die Form erinnert an diesen Pool, ist aber leer – dafür mit einem Plateau aus Holz und Ziegeln. Diese Ziegel haben wir uns übrigens aus der Nähe von Venedig ausgeliehen und geben sie nach der Biennale zurück. Hier veranstalten wir ab dem 7. Juni regelmäßig Versammlungen mit Gästen – ohne Hierarchie, im Austausch mit dem Publikum.
Wie kam die Zusammenarbeit mit Michael Obrist und Lorenzo Romito zustande?
Lorenzo ist Architekt in Rom, stark in die Hausbesetzerbewegung involviert und unterrichtet mit mir an der Kunstuni Linz. Michael Obrist ist Wohnbauexperte in Wien. Die Idee war, unsere jeweiligen Perspektiven auf das Thema Wohnen zusammenzubringen – Wien und Rom gegenüberzustellen, um voneinander zu lernen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview als Podcast hören!Zur Person

Sabine Pollak ist Architektin, Architekturtheoretikerin und Professorin. Sie studierte Architektur in Graz und Wien und promovierte 1995 an der TU Wien. 2003 habilitierte sie sich mit der Arbeit „Leere Räume. Wohnen und Weiblichkeit in der Moderne.“
Seit 2008 leitet sie die Abteilung Architektur und Urbanistik an der Kunstuniversität Linz. Gemeinsam mit Roland Köb führt sie das Architekturbüro Köb&Pollak Architektur mit Standorten in Wien und Wolfurt. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Urbanistik, Wohnbau, Genderforschung und Architekturtheorie. Sabine Pollak war Gastprofessorin an der University of Michigan, der Bauhaus-Universität Weimar, dem Politecnico di Milano, der Universität Salzburg und der Akademie der Bildenden Künste Wien. Ihre Projekte, wie das Frauenwohnprojekt [ro*sa] Donaustadt und das Wohnbauprojekt BOA in Wien, wurden vielfach ausgezeichnet.