Aus Hanf und Lehm wird ein System
Mit dem Projekt „Valley Widnau“ hat der Schweizer Unternehmer Andy Keel gezeigt, dass klimagerechtes Bauen kein Luxus, sondern eine wirtschaftlich tragfähige Realität ist. Gemeinsam mit einem interdisziplinären Team entwickelte er das Openly-Bausystem – ein skalierbares Modell, das CO₂ nicht nur reduziert, sondern speichert. Der Weg dahin war gepflastert mit Widerständen, Improvisation und Innovationsgeist.

Andy Keel ist kein Architekt im klassischen Sinne. Der CEO der Openly AG stammt aus der Design- und Betonwelt, betreibt eine Betonmanufaktur in der Schweiz und eine Kreativagentur in Dornbirn. Während der Pandemie begann er sich intensiv mit dem Klimawandel auseinanderzusetzen – und war schockiert über den hohen Anteil der Bauwirtschaft an den weltweiten CO₂-Emissionen.
Er entwarf deshalb ein Ziel: ein Gebäude zu errichten, das netto-null oder gar CO₂-positiv ist. Daraus entstand „Valley Widnau“, ein Hybridbau aus Hanf, Lehm, Holz und wiederverwendetem Stahl. Für Keel war klar: „Ich wollte beweisen, dass es möglich ist – mit wirtschaftlich tragfähigen Mitteln.“ Er investierte rund 20 Millionen Franken in das Pilotprojekt.

Vom Einzelfall zum System
Was als Einzelgebäude begann, entwickelte sich im Projektverlauf zu einem modularen, offenen Bausystem: Openly. Der Name ist Programm – das System basiert auf radikaler Transparenz. Sämtliche Bauteile, Materialien und Nachweise wie Brandschutzzertifikate und Gutachten werden öffentlich gemacht. Das Ziel: Planerinnen und Planer sowie Bauträger in die Lage zu versetzen, selbst emissionsarme Gebäude zu realisieren.
„Openly ist kein Produkt, sondern ein System. Es soll wachsen – mit jedem Projekt, das hinzukommt“, erklärt Keel. Und: „Die Architekturbüros sind der Hebel – sie entscheiden, welche Materialien verbaut werden.“
Das „Valley Widnau“ dient als Prototyp: ein 3.000 Quadratmeter großes Gebäude mit 19 Wohnungen, errichtet in nur 28 Monaten. Herzstück sind die atmenden Wände aus Hanfkalk, Lehmkassettendecken und ein tragendes Holzständerwerk – kombiniert mit Stahlträgern aus Rückbauprojekten. Die Heizkostenjahresrechnung einer Vierzimmerwohnung: 25 Euro! Die CO₂-Bilanz: negativ.
„Openly ist kein Produkt, sondern ein System. Es soll wachsen – mit jedem Projekt, das hinzukommt“
Andy Keel, Openly
Architektur als Koordinationsdisziplin
„Wir haben keine Leuchtturmarchitektur gemacht – sondern systemisch geplant“, betont Keel. Die Architektur übernahm in diesem Projekt die Rolle der Projektleitung. Sie koordinierte die Fachplaner, überwachte die Materialwahl und managte Genehmigungsprozesse. Ein großer Teil der Energie floss in die Überzeugung von Behörden, die bei neuen Materialien oft Zurückhaltung zeigen.
Trotz Widerständen stieß das Projekt auf wachsende Resonanz: über 1.000 Besucher, darunter viele junge Architekt*innen, besichtigten das Gebäude im ersten Jahr. Die Generation unter 25 zeige eine „magische Anziehung“ zu biogenen Materialien wie Hanf und Lehm, so Keel.

Skalierung durch Ausbildung und Kooperation
Um Openly in die Breite zu bringen, wurde ein Ausbildungsformat ins Leben gerufen. Ein eintägiger Kurs im Openly Lab vermittelt Architekt*innen, Investor*innen und Bauherr*innen das System – danach erhalten sie Zugang zur offenen Datenbank. Projekte werden im Anschluss durch die Openly AG begleitet, auch während der Bauausführung und Ausschreibungen.
Aktuell begleitet Keel ein Projekt in Vorarlberg mit 300 geplanten Wohnungen. Die Vision: 2.000 Einheiten pro Jahr – gemeinsam mit lokalen Architekturbüros und Bauträgern. Voraussetzung dafür ist ein massiver Aufwand an Zulassungen, Zertifizierungen und Marktentwicklung, den Openly derzeit eigenfinanziert stemmt.
Wirtschaftlichkeit statt Idealismus

Trotz des ökologischen Anspruchs betont Keel immer wieder die ökonomische Realisierbarkeit: „Meine Mutter heißt nicht Hilti – wir mussten kostenneutral bauen.“ Das System Openly ist kein Luxuskonzept, sondern konkurrenzfähig. In Österreich liegt der Baupreis bei rund 2.800 Euro pro Quadratmeter Bruttogeschossfläche – im Marktvergleich ist das wettbewerbsfähig.
Auch im Rückbau bietet das System Vorteile. Sämtliche Bauteile sind gesteckt oder geschraubt – trennbar, wiederverwendbar, recyclingfähig. „Wenn ich am Ende keine Abfälle, sondern verwertbare Rohstoffe habe, steckt darin ein realer ökonomischer Wert“, so Keel. Hanf, Lehm, Holz – alles kann wiederverwertet oder direkt auf der Baustelle recycelt werden.
„Ein Haus, das sich selbst mit Energie versorgt – das ist keine Romantik, das sind Hard Facts.“
Andy Keel, Openly
Der große Hebel: Politik und Industrie

Während Behörden meist lösungsorientiert agierten, sieht Keel das größere Hindernis in der Baustoffindustrie. Geringe Marge, geringe Produktionskapazitäten bei nachhaltigen Materialien – die Branche funktioniere nach dem Prinzip des Vorjahresumsatzes. „Es ist wie der Kodak-Moment: Die Welt verändert sich – aber die Industrie hält an alten Produkten fest“, zieht er eine Parallele zum Untergang des Fotoriesen Kodak, der die Digitalisierung spektakulär verschlafen hat.
Keel fordert langfristige politische Rahmenbedingungen, CO₂-Bepreisung, verbindliche Zielwerte oder Förderungen. Als Beispiel nennt er Dänemark, das ein CO₂-Limit von sechs Kilogramm pro Quadratmeter eingeführt hat. „Wenn man Emissionen bepreist, werden unsere Materialien automatisch wirtschaftlich attraktiv.“
„Wir müssen das Fantastische zeigen“
Was Andy Keel antreibt, ist weniger der Verzichtsgedanke, als vielmehr die Begeisterung für bessere Lebensqualität: „Ein Haus, das sich selbst mit Energie versorgt – das ist keine Romantik, das sind Hard Facts.“ Seine Projekte zeigen, dass klimagerechtes Bauen nicht nur möglich, sondern auch wirtschaftlich sinnvoll ist. Es braucht dafür aber den Mut, gewohnte Denkweisen zu hinterfragen – und Systeme radikal neu zu denken.
Zur Person

Andy Keel ist Gründer und CEO der Schweizer Openly AG. Der studierte Designer ist ein erfahrener Unternehmer mit Firmenstandorten in Dornbirn und Widnau. Mit seiner Betonmanufaktur entwickelte er früh CO₂-bindende Betontechnologien. 2021 initiierte er das Leuchtturmprojekt „Valley Widnau“, das zum größten Hanfhaus Europas wurde. Sein Ziel: ein skalierbares, transparentes Bausystem, das Klimaschutz und Wirtschaftlichkeit verbindet.
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