„Der größere Teil liegt noch vor uns“
Thomas Kirmayr, Geschäftsführer der Fraunhofer-Allianz Bau, zieht eine Zwischenbilanz zur Dekarbonisierung der Bauwirtschaft: Der Einsatz moderner Materialien zeigt Potenzial. Ohne verpflichtende Maßnahmen und CO₂-Bepreisung wird es aber nicht klappen.
Herr Kirmayr, wie beurteilen Sie den Stand der Nachhaltigkeit im Bauwesen in der DACH-Region, vor allem mit Blick auf die Dekarbonisierung? Wo steht der Bau derzeit?
Thomas Kirmayr: Wenn man die aktuelle Situation betrachtet, sieht man, dass einige notwendige Schritte noch nicht umgesetzt wurden. Wir haben zwar an vielen Stellen Potenzial, aber der klassische Bauprozess hat sich bislang nicht grundlegend verändert. Es gibt mehr Sensibilisierung und Interesse an CO₂-Bilanz und Nachhaltigkeit, aber signifikante Verschiebungen zugunsten nachhaltiger Bauweisen sind noch ein gutes Stück vom Potenzial entfernt. Natürlich bauen wir heute deutlich energieeffizienter als früher, das ist ein Erfolg. Gleichzeitig stehen wir aber vor neuen Herausforderungen, etwa durch die zunehmende Bedeutung des sommerlichen Wärmeschutzes. Wir müssen uns baulich und technisch deshalb laufend neu positionieren. Daher mein Zwischenfazit: Wir haben schon viel erreicht, aber das meiste liegt noch vor uns.
Drei von zehn
Wenn Sie eine Punktzahl vergeben müssten: Zehn wäre die völlige Dekarbonisierung. Wo steht die Bauwirtschaft aktuell?
Auf einer Skala von null bis zehn wäre meine Einschätzung eine Drei. Es liegen viele große Potenziale vor uns, besonders im Bereich der Baustoffe. Holz ist bereits ein vergleichsweise nachhaltiger Baustoff, aber es macht nur etwa 20 Prozent des Marktes aus. Das heißt, 80 Prozent müssen wir noch transformieren. Auch operative Prozesse müssen sich ändern, etwa durch Elektrifizierung der Baumaschinen. Der größere Teil liegt also noch vor uns.

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Wenn wir über nächste Schritte sprechen: Holz ist das eine Thema, massive Baustoffe wie Beton das andere. Was ist hier notwendig?
Beide Materialien haben ihre eigenen Herausforderungen. Beim Holz geht es um nachhaltige Waldbewirtschaftung. Wir brauchen neue Lösungen, etwa durch die Erschließung anderer Holzarten, um das Segment zukunftsfähig zu machen. Beim Beton liegt die Herausforderung den CO₂-Emissionen. Aus Forschungssicht haben wir hierzu bereits Lösungen in der Hand. Wir können heute nahezu CO₂‑neutralen Beton herstellen. Durch den Einsatz von Geopolymeren und Pyrolyse-Kohle als klimapositive Zementzumahlstoffe lassen sich erhebliche Emissionen einsparen. Bei Pyrolyseverfahren wird aufgrund des Sauerstoffmangels eine CO₂-Bildung verhindert, stattdessen entsteht eine Pyrokohle, die dem CO2-Kreislauf entzogen wird und dadurch ein klimapositives Produkt darstellt. Der Pyrolyse‑Prozess ist zwar energieintensiv, aber diese Energie können wir regenerativ bereitstellen und zudem entstehen bei Pyrolyseverfahren sogenannte Synthesegase, die vor Ort wieder zur Energiegewinnung verwendet werden können.
Werden diese Technologien auch in Deutschland oder Österreich bereits genutzt?
Ja, aber wir stehen noch am Anfang. Die Technologien sind da. Jetzt geht es um die Markteinführung. Hierzu braucht es Zulassungen, gerade für tragende Bauteile. Die Grundlagen sind weitgehend entwickelt. Mittels anwendungsnaher Forschung und in enger Kooperation mit Herstellern und Zulassungsstellen müssen wir nun möglichst schnell die Lücke zum Markt schließen und die neuen Rohstoffquellen hochfahren. Hierbei spielt auch das Thema Kreislaufwirtschaft eine immer wichtigere Rolle.
Die Zementindustrie unternimmt ebenfalls große Anstrengungen, die CO₂-Emissionen zu senken. Wie beurteilen Sie das?
Anfangs war die Industrie nicht immer die treibende Kraft, da bestehende Geschäftsmodelle betroffen waren. Inzwischen sehen wir jedoch, dass sich die Branche deutlich öffnet und neue Verfahren aktiv vorantreibt. Die Weichen sind gestellt, aber der Markt muss mitziehen. Aktuell fehlt beispielsweise in Deutschland ein CO₂-Faktor in der öffentlichen Vergabe. Ohne diesen Anreiz wird es schwierig, nachhaltige Lösungen wirtschaftlich umzusetzen.
Das ist das nächste Stichwort: die CO₂-Bepreisung. Welche Rolle spielt sie bei der grünen Transformation des Marktes?
Eine zentrale. Wenn nachhaltige Lösungen teurer sind, aber CO₂ keine Rolle bei der Vergabe spielt, fehlt der Anreiz zur Umstellung. Unternehmen müssen wirtschaftlich denken, und ohne Berücksichtigung von CO₂-Kosten in der Ausschreibung werden nachhaltige Ansätze nicht honoriert. Die CO₂‑Bepreisung kann hier eine entscheidende Steuerungsfunktion übernehmen.
Gibt es Länder in Europa, die hier schon weiter sind?
Einige skandinavische Länder haben CO₂-Faktoren in Vergaben eingeführt, allerdings in einem Umfeld, das weniger vom Thema „Bezahlbarkeit“ geprägt ist als Deutschland oder Österreich. In Baden-Württemberg wurde der CO₂‑Schattenpreis zwar aufgegriffen, aber die konkrete Umsetzung steht noch aus.
Wie funktioniert so ein Schattenpreis?
Das Bauunternehmen, das ein Angebot stellt, muss den CO₂-Ausstoß seiner Leistungen prognostizieren. Dieser Wert wird dann bei der Vergabe berücksichtigt – also nicht nur der eigentliche Preis und die Qualität. Je nachdem, wie man den CO₂‑Schattenpreis gewichtet, kann er dazu führen, dass ein Angebot gewinnt, das von den reinen Kosten her teurer gewesen wäre. Eben, weil es in der Gesamtrechnung besser abschneidet.
Und wie weit ist man da in der Umsetzung?
Noch nicht weit genug. Es braucht praxistaugliche Verfahren zur CO₂‑Berechnung, auch für kleine und mittelständische Unternehmen. Die Instrumente müssen so nutzerfreundlich sein, dass sie auch für einen Baumeisterbetrieb anwendbar sind. Wenn man wieder einen externen Berater beauftragen muss, der das umständlich berechnet, wird es nicht funktionieren.
Was schätzen Sie: Wie lange dauert es, bis die CO₂‑Bepreisung marktfähig ist?
Mit politischem Willen könnte man in einem Jahr ein praktikables System schaffen. Wichtige Instrumente wie eine offene Ökobaudat, die die Daten zur Erstellung einer Ökobilanz zur Verfügung stellt, sind vorhanden. Weitere Bausteine müssten integriert und für alle Unternehmensgrößen nutzbar gemacht werden. Dann könnte der Startschuss erfolgen.
In Österreich will die Regierung bis 2040 klimaneutral sein, in Deutschland war das Ziel teils 2035. Wie realistisch ist es, dass die Bauwirtschaft das schafft?
Wenn man den Baubereich isoliert betrachtet, muss die Geschwindigkeit der Transformation deutlich erhöht werden. Die Dekarbonisierung der Baustoffe und die Sanierung des Bestands sind zentrale Hebel. Der Massivbau wird weiter dominieren. Aber wir brauchen eine gute Balance mit dem Holzbau. Die energetische Sanierung ist ein großes Thema. In Deutschland liegen wir bei der Sanierungsquote derzeit unter einem Prozent. In Österreich schaut es ähnlich aus. Wir brauchen aber drei Prozent, wenn wir die Ziele erreichen wollen. Aus meiner Sicht gibt es keinen Zweifel: Ohne verpflichtende Maßnahmen und CO₂‑Bepreisung werden wir die Ziele nicht erreichen.
Zur Person:
Thomas Kirmayr ist Geschäftsführer der Fraunhofer-Allianz Bau und Abteilungsleitung Projekt- und Geschäftsfeldentwicklung am Fraunhofer IBP. Seine Expertise reicht von ressourcenschonenden Materialien bis zur Praxisanwendung an Baustellen.