1. Halbjahr 2022

Sind wir am Weg in eine Dauerkrise?

Wirtschaftsentwicklung
11.08.2022

Mit einem starken Wachstum ist die heimische Wirtschaft ins Jahr 2022 gestartet. Doch die wirtschaftliche Erholung hat an Schwung verloren, die Aussichten sind gedämpft. Hier die wichtigsten Entwicklungen im Überblick.

Das heurige Jahr hat es in sich. Nach zwei herausfordernden Pandemie-Jahren, die von Einschränkungen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten geprägt waren, erschien der Ausblick für 2022 äußerst positiv. Der von Russland ausgelöste Ukraine-Krieg in Europa hat jedoch alles verändert. So gut wie jede wirtschaftliche Prognose wurde dadurch über den Haufen geworfen. Das Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) geht davon aus, dass die Pandemie und der Krieg die Konjunktur mittelfristig noch über Jahre belasten wird. Schnelle Erholung scheint daher nicht in Sicht.  Europa, und damit auch Österreich, wird demnach noch einige Zeit mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben.

Hier der Überblick über die wichtigsten Entwicklungen im ersten Halbjahr dieses Jahres.

Konjunktur verliert an Schwung

Die Ergebnisse des Wifo-Konjunkturtests haben im Juni einen leichten Rückgang der Konjunkturdynamik gezeigt. Der Index verlor im Juni 2,4 Punkte, notierte aber mit 24,0 Punkten weiter deutlich im positiven Bereich. In der Bauwirtschaft war der Rückgang ausgeprägter. Der Lageindex verlor 8,3 Punkte, signalisierte aber mit 30,3 Punkten weiterhin eine überdurchschnittliche Baukonjunktur. Infolge des Ukraine-Krieges und der COVID-19-Pandemie schwächen sich die Wachstumsaussichten ab der zweiten Jahreshälfte aber markant ab. Dennoch rechnet das Wirtschaftsforschungsinstitut für 2022 noch mit einem BIP-Wachstum von 4,3 Prozent. Für 2023 wird jedoch ein BIP-Zuwachs von lediglich 1,6 Prozent erwartet. Demnach könnten der heimischen Wirtschaft stürmische Zeiten blühen. Auch die Europäische Kommission hat die Wachstumsprognosen für die europäische Wirtschaft korrigiert. Statt der bisher erwarteten vier Prozent soll das Wirtschaftswachstum 2022 durchschnittlich nur um 2,7 Prozent wachsen.

Inflation in (fast) unbekannten Höhen

Das Leben in Österreich hat sich spürbar verteuert. Auch im Juni hat die Teuerungswelle weiter Fahrt aufgenommen. Im Jänner kletterte die Inflationsrate auf 5,1 Prozent, im Mai betrug sie bereits 7,7 Prozent. Neue Preisschübe bei Treibstoffen, Nahrungsmittel und Energie ließen die Juni-Inflation auf 8,7 Prozent, die höchste Teuerungsrate seit September 1975, hochschnellen. Damit knackte Österreich auch den Rekordwert der Euro-Zone. Insgesamt rechnen die EU-Behörden für 2022 mit einer durchschnittlichen Inflationsrate von 7,6 Prozent in der Euro-Zone. Zum Vergleich: Der Jahresdurchschnitt lag 2021 bei 2,8 Prozent.

Treibstoffpreise erreichten Höchststand

Die Daten der Statistik Austria zeigen, dass sich gegenüber Juni 2021 der Dieseltreibstoff um rund 65 Prozent und Superbenzin um zirka 61 Prozent verteuert hat. Im Laufe des ersten Halbjahres erreichten die Spritpreise ihren absoluten Höchststand: Am 24. Juni 2022 kostete ein Liter Superbenzin 2,099 Euro, für einen Liter Diesel musste man am 10. März 2022 durchschnittlich 2,056 Euro bezahlen. Momentan sinken die Preise, wenn auch nur in kleinem Maße. Mit der CO2-Bepreisung ab Oktober 2022 werden die Spritpreise auf jeden Fall wieder weiter ansteigen.

Massiver Preisschub bei Energie & Strom

Laut Eurostat erhöhten sich im Juni die Preise für Energie im Vergleich zum Vorjahr um 41,9 Prozent, nach einem Preisschub von 39,1 Prozent im Mai. Die Preise für Heizöl haben sich im Jahresvergleich mehr als verdoppelt, die Fernwärmepreise stiegen um 16,5 Prozent. Den höchsten Anstieg gab es beim Arbeitspreis für Gas, der im Schnitt um 78 Prozent zulegte. Seit September 2021 haben sich die Stromgroßhandelspreise sehr dynamisch und volatil entwickelt, was sich seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine weiter verstärkt hat. Der Österreichische Strompreisindex (ÖSPI) hat im April 2022 mit 233 Punkten ein neues Allzeithoch erreicht. Stromsparen ist mittlerweile in aller Munde. Für das weitere Jahr erwarten die Marktteilnehmer weiterhin ein hohes Preisniveau. Für Österreichs Energie, die Interessensvertretung der heimischen E-Wirtschaft, zeigt sich frühestens mit dem 1. Quartal 2023 eine erste Entspannung.

Gas-Preise kletterte auf Rekordhoch

Seit 30. März befindet sich Österreich in der Frühwarnstufe des Gasnotfallplans. Grund dafür war die Ankündigung Russlands, dass Gaslieferungen künftig nur noch in Rubel bezahlt werden sollen. Zu dieser Zeit gab es noch uneingeschränkte Gaslieferungen seitens Russland, die heimischen Speicher waren jedoch nur zu 13 Prozent gefüllt. Ende Juni lag der Füllstand der Gasspeicher in Österreich laut Statista bei rund 59 Prozent, wobei Teile davon anderen Ländern und verschiedenen Firmen gehören und das Gas in verminderten Mengen bei uns eintrifft.

Energieministerin Leonore Gewessler ist zuversichtlich das Speicherziel von 80 Prozent, trotz gedrosselter Gaslieferung seitens Russland, bis zum Herbst zu schaffen. Seit 1. August steht auch der Gasspeicher Haidach in Salzburg zur Verfügung, vorrangig für österreichische Unternehmen. Gas ist vor allem für die heimische Industrie von existenzieller Bedeutung. Anfang Juli wurden Direktzuschüsse an energieintensive Unternehmen beschlossen, für die es einen Budgetrahmen von bis zu 450 Mio. Euro gibt. Seit Ende Juli gilt der EU-Gasnotfallplan, durch den die EU-Länder im Zeitraum von 1. August 2022 bis 31. März 2023 den Gasverbrauch freiwillig um 15 Prozent senken sollen. Zusätzlich hat die Regierung die Erdgas-Lenkungsmaßnahmen-Verordnung auf den Weg gebracht, etliche notwendige Gesetze und Verordnungen fehlen jedoch noch.

Im Würgegriff von Materialpreisen und Lieferengpässen

Neben der Covid-Pandemie ist es vor allem der Krieg in der Ukraine der den bereits seit 2021 kräftigen globalen Preisauftrieb massiv verlängert und verstärkt. Getragen wird dieser vor allem von stark steigenden Energie-, Rohstoff- und Vorproduktpreisen sowie einem markanten Anstieg der Transportkosten aufgrund von Kapazitätsengpässen und daraus resultierenden Lieferverzögerungen. Mit Herbst 2021 schien sich die exorbitante Entwicklung der Beschaffungskosten langsam zu entspannen. Doch im März 2022 schnellten durch den Kriegsbeginn in der Ukraine die Preise vieler Rohstoffe wieder unerwartet in die Höhe.  Vorwiegend das Bauwesen und die Industrie haben bei der Beschaffung von Rohstoffen und Vorprodukten ein großes Problem, vorrangig bei Stahl, Beton, Holz, Dämmstoffe und Ziegel.

Die Bauwirtschaft war im Laufe des ersten Halbjahres mit einem Materialkostenanstieg in einem noch nie dagewesenen Ausmaß konfrontiert. Im Mai 2022 lag der Baukostenindexfür den Wohnhaus- und Siedlungsbau laut Berechnungen von Statistik Austria bei 125,8 Indexpunkten. Verglichen mit Mai 2021 entspricht das einem Anstieg von 13,8 Prozent. Alleine gegenüber dem ersten Quartal 2022 legten die Preise um 3,9 Prozent zu, am kräftigsten im Hochbau. Hauptpreistreiber waren Bauleistungen wie Dachabdichtungen, Spenglerarbeiten, Glasfassaden und Elektroinstallationen. 

Bedarf an kurzfristigen Krediten nimmt zu

Seit fünf Quartalen steigt laut Österreichischer Nationalbank die Nachfrage nach Unternehmenskrediten. Im zweiten Quartal 2022 fiel die Nachfrage besonders deutlich aus. Vor allem der Bedarf an kurzfristigen Finanzierungen von Lagerhaltung und Betriebsmitteln sind deutlich gestiegen. Der wesentliche Grund dafür sind die wirtschaftlichen Auswirkungen des Ukraine-Krieges und die damit verbundenen Lieferkettenprobleme und Preisanstiege. Aber auch bei Klimaschutz, Energietransformation und Digitalisierung sind Unternehmen verstärkt auf Fremdkapital angewiesen.

Rekordzuwachs bei den Firmeninsolvenzen

Bei den Firmeninsolvenzen gab es im ersten Halbjahr 2022 einen Rekordzuwachs von rund 121 Prozent. Die Trendumkehr ist in erster Linie auf die Beendigung der staatlichen Unterstützungen zurückzuführen. Tatsächlich sind durch die außerordentlichen Corona-Stützungsmaßnahmen die Ausfallsraten in den Jahren 2020 und 2021 auf einen historischen Tiefstand gesunken. Entsprechend sind die Firmeninsolvenzen, so die Berechnungen des Gläubigerschutzverbandes Creditreform, um rund 40 Prozent zurückgegangen. Sukzessive löst sich die "Corona-Blase" wieder auf. Bis Jahresende könnte das Vorkrisenniveau erreicht sein.

Der Fachkräftemangel verstärkt sich

Der Fachkräftemangel, der jetzt schon enorm hoch und spürbar ist, legt an Dynamik zu. Vor allem KMU kämpfen bei der Lehrlingssuche mit immer größeren Problemen. Ende Mai 2022 betrug der österreichweite Lehrstellenüberhang 13.645, sprich es gab 13.645 unbesetzte Lehrstellen. Eine gewaltig hohe Zahl, die im Vergleich zu Mai 2021, wo es "nur" 7.888 nicht besetzte Ausbildungsstellen waren, die Dramatik der Situation aufzeigt.

Hohe Dunkelziffer bei Corona

Erstmals gibt es in Österreich eine Corona-Sommerwelle. Ende Juni bzw. Anfang Juli lagen die Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden bei rund 10.000, die 7-Tage-Inzidenz kletterte auf 800. Im Vergleich: Am 30. Juni 2021 waren es 93 neue Fälle und die 7-Tages-Inzidenz betrug 96. Da in diesem Jahr nicht mehr so viel getestet wird wie in den Jahren davor, gehen die Experten bei den Corona-Erkrankungen von einer hohen Dunkelziffer aus. Trotz der Sommerwelle kann aber eine Herbstwelle nicht ausgeschlossen werden. Durch die Änderung des Pandemiemanagements seitens der Regierung, gibt es seit 1. August für Corona-Positivgetestete keine Quarantäne mehr. So sie keine Symptome haben, dürfen sie auch Arbeiten gehen. Wer krank ist braucht, wie bei jeder anderen Krankheit, eine ärztliche Krankschreibung. Damit entfällt für alle Arbeitgeber*innen bezüglich der Entgeltfortzahlung jeglicher Anspruch auf Entschädigung für Verdienstentgang bei Absonderung.